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Bekannte Qualitäten


Autor: Thomas Ahnert

Bad Kissingen, Freitag, 01. Juli 2016

Rudolf Buchbinder und das Svetlanov Symphony Orchestra gaben eine Klaviersoiree im Großen Saal des Regentenbaus.
Rudolf Buchbinder und Vladimir Jurowski nach Beethovens 1. Klavierkonzert. Foto: Ahnert


Wie oft hat Rudolf Buchbinder wohl bisher in seiner 60-jährigen Karriere - als Neunjähriger gab er sein Orchesterdebüt - das 1. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven gespielt? 1000 Mal? Sicher nicht ganz, aber er wird vermutlich der erste Pianist sein, der diese Schallmauer überklettert. Denn er ist so etwas wie ein Nachlassverwalter geworden. Wer den Namen Beethoven hört, denkt an den Leitmeritzer, der mit fünf Jahren von Wien aus aufbrach, um mit Klavier und Beethoven die Welt zu erobern.

Das merkt man. Der Beethoven-Interpret Buchbinder ruht in sich. Er hat sich bereits mit jedem einzeln en Ton auseinandergesetzt, hat sie in ihren Wirkungszusammenhang gestellt und dabei sehr plausible Lösungen gefunden. Wobei auffallend ist, wie gut er die linke Hand emanzipiert hat, wie er ihr immer wieder über die Begleitung hinaus Führungsaufgaben zuweist und das Spiel so noch plastischer werden lässt.


Ein Partner mit Format

In dem State Academic Symphony Orchestra of Russia - kürzer auch: Svetlanov Symphony Orchestra - unter der Leitung seines Chefdirigenten Vladimir Jurowski hatte Buchbinder einen kongenialen Partner, der das Konzept der spielerischen Leichtigkeit sehr gut mitging. Leise begann das Orchester, als würde die Musik aus der Ferne anrücken, um sich auf ein schönes und selbstbewusstes Wechselspiel mit dem Solisten einzulassen. Wobei man hier auch merkte, dass Buchbinder die Beethovven-Konzert auch schon oft als dirigierender Solist gespielt hat. Er weiß, wann er sich dem Orchester zuzuwenden hat, wie er in es hineinspielen kann. Und die Moskauer griffen diese Kontakte sehr aufmerksam auf (ein Kompliment ans Fagott!). So entstand eine in ihrer Vielschichtigkeit homogene Interpretation, bei der man nur eines ein bisschen vermissen konnte - aber nicht musste: Beethovens Spielvorschrift "con brio" war in der in sich ruhenden Musik nicht wirklich nachvollziehbar.
Im Largo spielte Buchbinder seine ganze Erfahrung aus, das sangliche Hauptthema genießerisch bis an die Grenzen der Langsamkeit zu führen, ohne die Spannung zu verlieren. Dafür war der Finalsatz von Solist und Orchester umso zupackender musiziert, sehr schnell, sehr plastisch. Da war das "con brio", das das "scherzando" Beethovens noch ein bisschen weitertrieb.


Ein Vorbehalt bleibt

Ein wunderbares Musizieren. Und trotzdem blieb ein gewisses Vermissen. Man weiß inzwischen, wie Buchbinder spielt. Und wenn die Musik aufs Gleis gestellt und angeschoben ist, dann kann man sich entspannt zurücklehnen und einfach nur zuhören. Aber man wartet eigentlich nicht mehr auf Überraschungen. Früher hat er ja manchmal noch die Marseillaise in seine Kadenzen hineinimprovisiert oder andere Scherze gemacht.
Als Zugabe spielte Rudolf Buchbinder Franz Schuberts Impromptu Es-dur D 899/2. Das hat er allerdings schon pointierter gemacht.


Rachmaninoffs Fehlstart

Und dann also Sergej Rachmaninoffs 1. Sinfonie, die bei ihrer Uraufführung 1896 in St. Petersburg mit Pauken und Trompeten durchfiel, weil, wenn man der Überlieferung glauben darf, Alexander Glasunow am Pult wohl mal wieder nicht ganz nüchtern war und auch das Orchester nicht genügend geprobt hatte und etliche Dissonanzen produzierte. Für Rachmanonoff bedeutete der kapitale Misserfolg eine zweijährige Kompositionshemmung.
Da waren die Voraussetzungen jetzt dramatisch besser. Jeder im Orchester wusste genau, was er zu tun hatte, und Vladimir Jurowski schritt ohne zu schwanken und mit klarem Blick zum Pult. Die Dissonanzen blieben aus. Aber vielleicht hat man sich auch nur in den letzten 120 Jahren daran gewöhnt.

Interessant - und verdienstvoll - war die Aufführung auf jeden Fall, auch wenn sie mit der Erkenntnis endete, dass man diese Sinfonie nicht jeden Tag hören muss. Sie ist ein typischer Erstling, mit dem der junge Komponist Gehör und Aufmerksamkeit verschaffen will, mit dem er zeigen will, was er alles schon kann. Vor allem die beiden Ecksätze sind vollkommen übermöbliert. Da sind mehr oder weniger alle knapp hundert Musiker im Einsatz, da geht es über weite Strecken an die akustische Schmerzgrenze. "Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr ", schrieb Rachmaninoff über die Partitur. Für einen 23-Jährigen etwas keck, aber auch woeder verständlich angesichts der "Dies irae"-Zitate und den extrem martialischen Klängen des Finales - 21 Jahre vor der russischen Revolution.


Verdeckte Defizite

Was dadurch zu kurz kam in dieser noch sehr romantischen Sinfonie war die Arbeit mit dem thematischen Material im Sinne einer kompositorischen Entwicklung in längeren Zusammenhängen, die durch die Episodenhaftigkeit vieler einzelner Teile gar nicht erst entstehen.

Man muss allerdings Jurowski und seinem Orchester das große Kompliment machen, dass es ihnen gelang, die Musik auch im größten Tumult noch durchhörbar zu gestalten, dass aus den vielen Einzelteilen trotzdem ein Gesamtgefüge wurde, in dem nichts geglättet war, in dem die Konflikte ausgetragen wurden. Und es war bemerkenswert, mit welchem Engagement und welcher Verantwortung alle Musiker bei der Sache waren. Das Svetlanov Symphony Orchestra hat die Messlatte für die noch kommenden russischen Orchester sehr hoch gelegt.