Bad Kissingen gedenkt seiner jüdischen Geschichte
Autor: Sigismund von Dobschütz
Bad Kissingen, Freitag, 08. November 2013
Auch 75 Jahre nach den Schrecken der Reichspogromnacht wird in Bad Kissingen an die Ereignisse erinnert. Aber eine jüdische Gemeinde hat sich nie mehr gebildet.
Die Reichspogromnacht des 9. November 1938 mit gewalttätigen Übergriffen auf jüdische Mitbürger jährt sich heuer zum 75. Mal. In Bad Kissingen wurde die Synagoge an der Maxstraße in Brand gesteckt, 28 jüdische Männer verhaftet und 14 von ihnen ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Weitere Deportationen in Konzentrationslager folgten im April und Mai 1942. Am 29. Mai 1942 meldete Bürgermeister Adalbert Wolpert die Stadt als "judenfrei". Nur zwanzig Jahre zuvor hatte die jüdische Kultusgemeinde, um das Jahr 1300 erstmals erwähnt, noch 500 Mitglieder.
Gibt es heute, sieben Jahrzehnte nach dem Nazi-Terror, wieder jüdisches Leben in Bad Kissingen? Eine neue jüdische Gemeinde, wie sie sich in mancher deutschen Großstadt inzwischen aufgebaut hat, fehlt. Aber es leben etliche Neubürger, ausnahmslos Übersiedler aus der früheren Sowjetunion, und zeitweilig Urlaubsgäste jüdischen Glaubenszugehörigkeit in der Stadt. Nicht jeder will sich öffentlich zum Judentum bekennen, nicht jeder ist streng gläubig. Manche müssen sich sogar erst wieder mit dem Glauben ihrer Vorfahren vertraut machen.
"Manchmal bekommen wir keine zehn Männer zusammen", bedauert Rabbiner Tuvia Hod (63). Seit 2005 zelebriert er im Sommer die Gottesdienste im Betsaal des früheren jüdischen Gemeindehauses, der 1996 in Josef-Weissler-Synagoge umbenannt wurde.
Die Gottesdienstbesucher sind Gäste des Kurheims Eden-Park, das vor 20 Jahren von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland an der Rosenstraße eröffnet wurde. Es ist noch immer das einzige Hotel Deutschlands, in dem es ausschließlich koscheres Essen gibt und wo nach jüdischem Ritus gelebt wird. "Unsere Gäste sind Übersiedler aus der früheren UdSSR, die wir in familiärer Atmosphäre mit unserer Religion und unseren Bräuchen vertraut machen", erzählt Tirza Hodes (91) aus Tel Aviv. Die gebürtige Düsseldorferin floh 1939 als 16-Jährige allein nach Palästina. Vor 40 Jahren kam sie erstmals zurück, "um zu sehen, ob es ein neues Deutschland gibt". Seit 1993 gibt sie regelmäßig für einige Zeit im Eden-Park Deutsch-Unterricht.
Unterstützt wird sie von Nina Eisenberg (44) aus Koblenz. Sie kam nach dem Zusammenbruch der UdSSR aus Odessa. Die studierte Informatikerin nutzt ihren Urlaub für Hilfsdienste im Kissinger Kurheim. "Ich bin eine deutsche Jüdin", sagt sie.
"Ein deutscher Jude muss hier geboren sein", widerspricht Eduard Mendelson (66) aus Taschkent, heute Kissinger Bürger und eingetragenes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Würzburg. Der Pianist hatte 1992 den Antrag gestellt, als Angehöriger der jüdischen Minderheit in Usbekistan ausreisen zu dürfen. Drei Jahre musste er warten. Sein Bruder Nathan (71) folgte ihm später. Seit 20 Jahren lebt Mendelson schon in der Stadt, spielte zwei Jahre im Kurorchester. "Wir sind die einzige jüdische Familie in Bad Kissingen", meint er. Die anderen 40 bis 50 Juden aus der Sowjetunion, die er kennt, hätten keinen Bezug mehr zum Judentum. Er selbst sei zwar auch nicht streng gläubig. Aber er achtet die hohen Feiertage und holt sich zum jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana den traditionellen gefüllten Fisch aus dem Eden-Park.
Deutsche Juden, wie sie Mendelson versteht, die also in Deutschland geboren sind, "gibt es in Bad Kissingen wohl kaum mehr", vermutet Marlies Walter. Sie habt früher mal ein paar gekannt, aber die sind verstorben oder weggezogen. Walter betreut im Auftrag der Stadt die Dauerausstellung "Jüdisches Leben in Bad Kissingen" im ehemaligen Gemeindehaus, die vor 25 Jahren zum 50. Jahrestag der Pogromnacht von Schülern des Jack-Steinberger-Gymnasiums erstellt wurde.
Öffentlich begegnet uns jüdisches Leben in der Kurstadt allenfalls in der Erinnerung und in offiziellem Gedenken. Die Dauerausstellung im jüdischen Gemeindehaus, Führungen über den sonst verschlossenen jüdischen Friedhof in der Bergmannstraße, die Jüdischen Kulturtage oder die 2008 von Kissinger Bürgern begonnene Aktion "Stolpersteine" zum Gedenken an Kissinger Opfer des Nazi-Terrors sind Beispiele.