Franz Ziegler schrieb die Speicherzer Kriegschronik
Autor: Stephanie Elm
Speicherz, Dienstag, 16. Sept. 2014
Was der Erste Weltkrieg an persönlichen Schicksalen besiegelte, ist weitestgehend in Vergessenheit geraten. Wären da nicht hier und da Aufzeichnungen, die Bürger, wie Franz Ziegler aus Speicherz, für die Nachwelt festgehalten haben.
Es ist 100 Jahre her. Auf einmal entdeckt man auf einem Dachboden oder in einem Keller Verdienstorden, Bilder, Feldpostkarten. Woher die kamen, was da geschrieben steht, wissen die Besitzer meist nicht. Jahreszahlen, Inflationsrate, Verluste lehren uns die Geschichtsbücher. Von den Schicksalen berichten indes Bürger. So hat Franz Ziegler aus Speicherz neben Informationen über sein Dorf auch eine detaillierte Kriegschronik verfasst.
Sie umfasst 20 "Bücher", eingebundene Hefte, und beginnt am 24. August 1914, ergänzt durch zwei Bücher, in denen alle Speicherzer Kriegsteilnehmer nicht nur aufgelistet, sondern auch als Person und in ihrer Beteiligung im Krieg beschrieben werden.
In der neutral gehaltenen Sprache wird Erinnerung lebendig und offenbart eine Zeit, die sich keiner zurückwünscht.
Spät von Ermordung erfahren
Junge Ehemänner zogen in den Krieg und kehrten nicht mehr zurück. Söhne galten seit dem zweiten Kriegsjahr als vermisst. Im besonderen Fall von Johann Dehler erfuhr die Familie erst 21 Jahre später von der Ermordung des gefangen genommenen Bruders durch die Franzosen. Seine Mutter war bereits zwei Jahre nach ihm gestorben. Emeran Weber, "zweiter Sohn der Witwe Maria Weber", fiel am 15. September 1916. Nach einem Fronturlaub wollte ihn sein Bruder Josef besuchen, erfuhr aber von seinem Tod. Ein paar Seiten weiter liest man, dass ein weiterer Bruder "19 Jahre alt.
(...) Fürs Vaterland gefallen Anfang Juni 1917 in Frankreich, nachdem sein Bruder Emeran ihm ein Jahr im Tode vorausgegangen war." Nüchtern niedergeschriebene Ereignisse bestürzen: "23. November. Heute muss Karl Grünewald einrücken. Heute Nacht wurde ihm ein Junge geboren, der dritte."
Der letzte Abschied
Die Gedenktafel aus Kothen zeigt 55 Männer, die in den Krieg zogen, 13 fielen. Auf dem Kriegerdenkmal bei der Kirche, das 1966 eingeweiht wurde, stehen 29 Namen von Gefallenen. Einer von ihnen war der Großvater von Reinhilde Kraus, die sich noch an die Schilderungen ihrer Mutter erinnert: "Der Vater hatte Urlaub gehabt. Meine Großmutter hat ihn zusammen mit ihren drei kleinen Geschwistern und der Mutter zur Bushaltestelle gebracht. Dann haben sie ihn nicht mehr wiedergesehen." In Motten kamen 52 Männer vom Schlachtfeld wieder.
Auf dem Gedenkbild sind 14 Soldaten als gefallen abgebildet, das Kriegerdenkmal auf dem Friedhof nennt 19 Namen. In Speicherz erinnert eine Gedenktafel in der Kirche an zwölf Gefallene. Laut den Aufzeichnungen von Ziegler waren 56 Männer da in den Krieg gezogen.
Franz Gaul erhält Eisernes Kreuz
In der Kriegschronik überstürzen sich 1914 die Ereignisse. Am 31. Juli wurden "die Plakate über die Verfügung des Kriegszustandes an der Treppe des Wirtshauses angeheftet. Es herrscht große Bestürzung hier". Tags darauf rückten die ersten Männer ein. Erste Siege wurden bekannt, die Kinder bekamen deshalb schulfrei. Schon in den ersten Kriegsmonaten wurden Eiserne Kreuze verliehen. Franz Gaul war "durch Handgranate verwundet an Brust und Unterleib am Palmsonntag den 16. April 1916. Erhielt das Eiserne Kreuz als erster von hier", schreibt Franz Ziegler.
Tatsächlich wird im Brückenauer Anzeiger am 24. September 1914 veröffentlicht, dass bereits zwei Monate nach Kriegsbeginn 38 000 Eiserne Kreuze verliehen worden waren. Bereits im Oktober des ersten Kriegsjahres wird Petroleum knapp. Die Einschränkungen in der Versorgung von Lebensmitteln ist sowohl bei Ziegler, als auch in Kothens Chronik, die damals der Lehrer Max Troll zusammengetragen hatte, ein großes Thema.
Kaffeesatz als Viehfutter
Auch in diesen Schriftstücken ist sehr schnell die Rede von Einschränkungen und Verordnungen, mit denen die Kothener belastet wurden. Auf Grund der britischen Wirtschaftsblockade gab es weniger oder keine Importe von Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Viele "Recycling-Sammlungen" waren die Folge. Die erste Sammlung wird in der Kothener Chronik bereits am 12.
August 1914 genannt.
Die Blätter von Him- und Brombeeren trockneten die Kinder in der Schule, um sie als Tee für die Soldaten abgeben zu können. Das Bezirksamt nahm Spenden entgegen und schickte sie weiter an das Heer. Auch zarte Buchenzweige kamen für die Pferde an die Front, und sogar Kaffeesatz erfuhr auf dem eigenen Hof eine zweite Verwendung als Viehfutter. Am 10. Dezember 1914 wird die Sammlung von "Goldgeld" erwähnt. Am 29. Juni 1917 steht in der Kothener Chronik geschrieben: "An Peter und Paul wird nach dem Angelusläuten mittags um 12 Uhr noch einmal mit allen Glocken geläutet. Dann werden die zwei kleineren Glocken von der Feuerwehr abgenommen und ans Heer abgeliefert."
Beschlagnahme
Von der Beschlagnahme von Getreide, über Einschränkungen beim Schnapsbrennen und Bierbrauen bis hin zu neuen Backvorschriften, werden der Bevölkerung neue Bestimmungen auferlegt.
Zunächst freiwillig, aber schnell durch Behörden werden die Bestände von "Frucht", d. h. von Getreide und Kartoffeln, erfasst. Entsprechend des Besitzes werden die Lebensmittelmarken ausgegeben. In der Dorfchronik von Kothen heißt es hier: "Die Nichtlandwirte erhalten eine Brotmarke. 1 Kopf erhält ½ Pfd. Brot." Bald folgte die Beschlagnahme. Wenn geschlachtet wurde, war eine festgesetzte Menge für das Heer reserviert. Für Gaststätten wurden am 17. November 1915 die fleischlosen Tage eingeführt.
Inflationäre Lebensmittelpreise
Die Lager waren in jedem Haus schon leer, dazu drohten Ernteverluste. Aber eine gute Ernte kam nur begrenzt den Eigentümern zugute. Bei Ziegler heißt es: "Reichlich ist die Obsternte ausgefallen. Heute wurden von hier 200 Ztr. gebrochenes Tafelobst à Ztr.
16 M abgeliefert." Ein Zentner Äpfel für 16 Mark entsprechen 32 Pfennige für ein Kilogramm. Demgegenüber standen inflationäre Lebensmittelpreise. Am 1. Oktober 1914 heißt es in der Chronik: "Man sieht die ersten Ein- und Zweimarkscheine." 1917 werden die "Gold-, Silber- und Nickelmünzen (...) ausser Kurs gesetzt".
Es gibt für immer mehr Lebensbereiche Bezugsscheine, so im gleichen Jahr für "Schuhe und Kleiderstoffe". Dass die Kriminalität anstieg, wundert nicht. Von Schmuggel und Diebstählen ist die Rede, auch von Schwarzbrennen und -schlachten. Am 11. November 1918 endet der Erste Weltkrieg. Die Bevölkerung leidet weiter. Im Herbst wütet die Spanische Grippe. In der Kothener Chronik wird noch 1919 von Kriegstoten geschrieben. Insgesamt berichten die Geschichtsbücher von mehr als zwei Millionen deutschen Kriegsgefallenen.