Sie war von der ersten Stunde an die Leiterin der Wohnstätte in Unterweißenbrunn. Nun geht sie in den Ruhestand. Es ist für Annette Scheuring mehr als das Ende ihrer beruflichen Laufbahn.
Für sie ist es ein Abschied von ihrer zweiten Familie. Im Laufe der Jahre ist sie mit den Bewohnern zu einer großen Familie zusammengewachsen. Es wurde miteinander Alltag geteilt, Feste gefeiert, getrauert und gelacht, Reisen unternommen und Krankheiten überstanden.
Geschäftsführer Jens Fuhl und Vorsitzende Brunhilde Hergenhan waren zur Verabschiedung von Annette Scheuring in die Wohnstätte gekommen. Auch wenn sie schon Ende November in Berlin die Silberne Ehrennadel der Lebenshilfe für ihre Arbeit bekommen hat, sollte doch auch vor Ort ein Abschied stattfinden. Nach ihrem Examen als Gymnastiklehrerin an der Schule Schwarzerden begann Annette Scheuring am 1. Oktober 1980 für die Lebenshilfe zu arbeiten. Zwölf Jahre war sie an der Herbert-Meder-Schule in Unsleben beschäftigt. Als 1992 das Wohnhaus in Unterweißenbrunn erworben wurde, um eine Wohnstätte zu gründen, fiel die Wahl auf Annette Scheuring.
Zu Beginn gleich Kontakt zur Kirche
Zwischenzeitlich hatte sie auch nebenberuflich den Fachpädagogen für Erwachsenenbildung absolviert, um die Leitungsposition ausüben zu können. "Sie hatte das richtige Gespür und die Fähigkeiten - sie kannte die Menschen in der Rhön - umfängliche Ängste und Befürchtungen zu zerstreuen", sagte Fuhl. "Die Bevölkerung sollte sehen, dass wir genauso sind wie sie, dass wir arbeiten und feiern", erklärte Scheuring ihr Konzept. Am 1. September 1992 wurden die Räume in Unterweißenbrunn bezogen. Gleich am ersten Sonntag ging Annette Scheuring mit ihren Schützlingen in die Kirche. "Pater Schultheiß begrüßte uns so herzlich, da war der Bann gebrochen. Unterweißenbrunn war damals noch ein sehr katholisches Dorf, was der Pfarrer sagte, das galt. Die Kirche war der Schlüssel zu Akzeptanz."
Wenig später starb ein Mitbewohner und wurde auf dem Unterweißenbrunner Friedhof beigesetzt. Dieses Grab wurde fortan von den Bewohnern mit viel Liebe gepflegt und war ein Ort der Kommunikation mit der Bevölkerung. "Sie haben gesehen, wir pflegen unser Grab genauso wie sie auch. Auf dem Weg zum Friedhof haben wir immer jemanden getroffen, und es wurde geratscht." So waren die Bewohner von Anfang auch auch ganz selbstverständlich im Dorf unterwegs und sind es heute noch, sie besuchen die örtlichen Feste oder bringen mit dem Bollerwagen die leeren Gläser zum Container. Es gibt viele Gelegenheiten, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Die große Hilfe, die sie in all den Jahren von der Dorfbevölkerung erfahren habe, könne sie zum Abschied gar nicht in Worte fassen. Alleine die gute Nachbarschaft oder die Unterstützung bei den Festen der Wohnstätte. "Wenn es ein Inklusionspreis für ein Dorf geben würde, dann müsste ihn Unterweißenbrunn bekommen", wünschte sich Annette Scheuring zum Abschied.
Die Wohnstätte in Unterweißenbrunn war für Annette Scheuring von Anfang mehr als ein Job. Ihre gesamte Familie war in die Arbeit involviert. Ihr Vater kam mit dem Traktor und sorgte im Haus und Garten für Ordnung. "Ohne die Familie hätte ich es nicht geschafft."
Offenes Haus für die Bevölkerung
Von Anfang an verreiste Annette Scheuring mit ihren Schützlingen und zwar mit dem Reisebus in einer ganz normalen Reisegruppe. Über die Jahre entwickelte sich eine Art feste Gruppe, die miteinander von Italien bis Sylt vieles erkundete. Wichtig waren auch stets die Kontakte zur Kreuzbergschule, da wurde gemeinsam gebastelt, gefrühstückt, gewandert und gefeiert. Die Wohnstätte war von Anfang an ein offenes Haus für die Bevölkerung. Vor allem Kinder sind gerne gekommen, um auch mal ganz spontan beim Äpfelschälen zu helfen. Eines dieser Kinder war Anna-Lena Fellenstein, die dann auch beruflich diese Richtung einschlug und heute Heilerziehungspflegerin ist. Seit 2007 arbeitet sie in der Unterweißenbrunner Wohnstätte und übernimmt zum 1. Januar die Nachfolge von Annette Scheuring.
Für Jens Fuhl ist Annette Scheuring ein "Inklusionspionier". Die Akzeptanz, die die Lebenshilfe in Unterweißenbrunn und ganz Bischofsheim genieße sei beispielhaft. Scheuring bedankte sich für die Freiheit, die sie in ihrem Beruf genoss und die Möglichkeit, ihre eigene Ideen umzusetzen und sich zu entwickeln. Der Abschied gehe ihr sehr ans Herz, sie spüre jetzt schon einen Trennungsschmerz trotz des Wissens, dass es auch nach ihrer Zeit gut weitergehen werde. Die dankte ihrem Mitarbeiterteam, das bei all ihren Ideen immer mitgezogen habe. Einen besonderen Dank trage sie schon lange im Herzen, den sie an die Eltern ihrer Schützlinge richten möchte. "Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich mit so wunderbaren und einzigartigen Menschen ein erfülltes Berufsleben haben konnte."