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Die Stadt aus der Rollstuhlperspektive


Autor: Rolf Pralle

Bad Brückenau, Dienstag, 11. Mai 2021

Bad Brückenauer Kommunalpolitiker erlebten bei einer Informationstour der etwas anderen Art ihre Stadt im Rollstuhl. Dabei wurden sie mit ungewohnten Hindernissen konfrontiert.
Da nutzten auch die guten Ratschläge von Organisator Andreas Knüttel (rechts vorn) nichts. Spätestens an der Steigung mit eingebautem Wasserablauf geriet Bürgermeister Jochen Vogel (links) aus der Spur. Foto: Rolf Pralle


Die Idee zu der Veranstaltung stammte von Andreas Knüttel, der sich seit vielen Jahren mit unermüdlichem Elan für in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen einsetzt. Als selbst Betroffener weiß er mittlerweile sehr gut, "wo die Ecken und Kanten in Bad Brückenau sind und welche Herausforderungen wir täglich meistern müssen". In Heribert Übelacker (CSU), im Stadtrat zuständig für Senioren und Menschen mit Behinderung, hatte er schnell einen Mitstreiter für die Aktion gefunden. Beide waren beeindruckt von der großen Resonanz, da rund die Hälfte des Stadtratsgremiums und Bürgermeister Jochen Vogel (CSU) an der nicht alltäglichen Tour - im Rollstuhl - teilnahm.

"Reden ist gut, die Praxis ist besser", betonte Übelacker am Treffpunkt beim Alten Rathaus, nachdem er noch einmal auf die Einhaltung der gültigen Hygienebestimmungen und Abstandsregeln wegen Corona hingewiesen hatte. Auch sämtliche Leihrollstühle, die vom Reha-Team Traub (Bad Kissingen) und aus Knüttels eigenem "Fuhrpark" stammten, wurden im Vorfeld einer gründlichen Desinfektion unterzogen.

Wertvolle Tipps

"Wir sehen die Dinge und örtlichen Gegebenheiten überall aus einer ganz anderen Perspektive als beispielsweise die Fußgänger", beschreibt Knüttel seinen Alltag. Nachdem die Stadträtinnen und Stadträte in ihren ungewohnten Fortbewegungsmitteln Platz genommen hatten, verstanden sie sehr schnell, was mit dieser Aussage gemeint war.

Und so einfach, wie die Handhabung einer Mobilitätshilfe für den Außenstehenden manchmal aussehen mag, ist die ganze Sache natürlich nicht. So wird dann selbst ein relativ niedriger Bordstein zum Hindernis, das erst nach mehrmaligem Anfahren bewältigt werden kann. Da waren dann die praxisnahen Tipps einiger Behinderter, die sich der Gruppe mit ihren eigenen Rollstühlen angeschlossen hatten, das sprichwörtliche Gold wert.

Blasen an den Händen

Hatten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit ihren fahrbaren Untersätzen noch voller Elan auf flachem Terrain durch die Unterhainstrasse bewegt, ließen ihre Kräfte spätestens bei der Bewältigung der Steigungen in den engen Gassen der Stadt merklich nach. Denn diese Art der Fortbewegung erfordert doch neben einem enormen Einsatz der Arme ein Höchstmaß an Konzentration und Geschicklichkeit. Schnell hat man sich dann durch das stetige Drehen der großformatigen Räder eine Blase an den Fingern oder der Handfläche geholt. Diese Erfahrung machte beispielsweise der Referent für Digitales und Wirtschaft, Hartmut Bös (Grüne), schon nach wenigen hundert Metern.

Knüttel und die anderen Behinderten machten die Kommunalpolitiker an etlichen markanten Stellen in der Stadt immer wieder darauf aufmerksam, was man hier und da von verantwortlicher Seite schon mit wenig Aufwand für eine bessere Lebensqualität der behinderten Bürger ändern könnte. "Wir möchten in der Stadt auch gern allein unterwegs und nicht immer auf Begleitpersonen angewiesen sein", sagt Knüttel.

Ein Problem, das den Menschen mit Mobilitätseinschränkungen besonders auf den Nägeln brennt, ist die Tatsache, "dass es in Bad Brückenau viel zu wenige öffentliche Toiletten gibt und sich der Zugang zu den Anlagen auf Grund der beengten räumlichen Verhältnisse für Rollstuhlfahrer oft sehr schwierig gestaltet". Einige Geschäftsleute würden dankenswerterweise "im Notfall" zwar ihre WCs zur Verfügung stellen, das könne aber kein Dauerzustand sein.

Bemängelt wurde unter anderem auch, dass sich beispielsweise manche speziell ausgewiesenen Behinderten-Parkplätze nicht direkt beim jeweiligen Gebäudeeingang befinden, "sondern unverständlicherweise doch recht abgelegen platziert sind".

Neue Sichtweisen

Von einer interessanten und eindruckvollen Erfahrung sprach Bürgermeister Vogel bei der ausführlichen "Manöverkritik" nach der Rollitour. Das eigene Erleben und der Erfahrungsaustausch mit den Betroffenen hätten sehr plakativ etliche Probleme aufgezeigt, die man in dieser Form bisher nicht erkannt habe und bei der künftigen Arbeit im Stadtrat und in der Verwaltung berücksichtigen werde. Es sei immer wieder gut, wenn man Dinge in der Praxis kennenlerne und sich daraus ganz neue Sichtweisen eröffnen würden, so der Rathauschef.

Schließlich hatte Knüttel noch eine Fülle hilfreicher Informationen für alle Beteiligten parat und beantwortete ausführlich die Fragen aus der Gruppe. Die Themen reichten von der Antragstellung für einen Rollstuhl über die Bezuschussung durch die Krankenkasse bis hin zu diversen Anlaufstellen, bei denen es weitere kompetente Auskünfte gibt.

Begeisternde Technik

Die 16-jährige Lea Weber, die mit einem hochmodernen Gefährt unterwegs war, zog immer wieder die Blicke auf sich. Geschickt demonstrierte sie mehrfach, wie mit wenigen Griffen und etwas Geschick dank einer Zusatzeinrichtung aus einem normalen Rollstuhl ein wendiges Handbike mit Akku-Unterstützung wird. "Das ist Technik, die begeistert", waren sich alle Teilnehmer einig.