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Der letzte Ureinwohner des Staatsbades Brückenau


Autor: Steffen Standke

Staatsbad Brückenau, Montag, 11. Januar 2021

Siegfried Ritter hat fast sein gesamtes Leben im Staatsbad Brückenau verbracht. Der 83-Jährige kann viel aus goldenen, aber auch harten Zeiten erzählen. Und wie der Bad Brückenauer Stadtteil sich und ihn verändert hat.
Siegfried Ritter mit einem gemalten Bild, das einen Teil seines Elternhauses im Jahr 1941 zeigt. Der Gebäudekomplex ist verschwunden, wurde nur teilweise wieder aufgebaut. Der 83-Jährige hingegen hat ihn überdauert, verbrachte fast sein ganzes Leben im Staatsbad. Foto: Steffen Standke


Zwei hölzerne Türen an der Frontseite. Viel mehr ist nicht geblieben von Siegfried Ritters Elternhaus, das hinterm Fürstenhof stand. Anders als der 83-Jährige hat es die Zeiten nicht überdauert. Ritter ist ein Original, wohl der letzte Ureinwohner des Staatsbades. Einem Brückenauer Stadtteils, dessen Antlitz sich über Jahrzehnte kaum veränderte. In dem aber viel passierte. Ritter weiß einiges davon zu berichten.

Siegfried Ritter ist ein Muster von einem Mann - groß, stämmig, ausgestattet mit einem Rauschebart. Und trotz seines Alters geistig sehr rege. Er liebt die Jagd, sammelt Jagdpfeifen.

Geboren wurde Ritter 1937 im alten Brückenauer Krankenhaus, dort, wo heute das neue Haus Waldenfels steht. Erst fünf Jahre zuvor, 1932, hatten Ritters Eltern den Komplex hinter dem Fürstenhof bezogen. Zuvor hatte ein hauptamtlich angestelltes Tanzpaar dort gewohnt.

Der Vater arbeitete als "Gartenmeister der sogenannten oberen Gärtnerei", lernte erst vor Ort die Mutter kennen, die als Kontoristin im Füllhaus, einem Vorläufer der Staatlichen Mineralbrunnen, schaffte.

Die Kur war eine andere zu jeder Zeit. Privatkurer ließen viel Geld im Staatsbad, das einen eigenen Polizisten, einen eigenen Jäger hatte, über eine Schreinerei und eine Schlosserei verfügte. Die Kurkapelle spielte mit 20 Musikern. "Das war ein Leben hier", sagt Ritter.

Welch Gegensatz zum bescheidenen Dasein, das seine Familie hinter dem schon immer als Hotel genutzten Fürstenhof fristete. Der Wohnkomplex zusammengeschustert aus Fachwerk; gebadet wurde in der Zinkwanne im Keller.

Trotzdem spricht der 83-Jährige von einer glücklichen Kindheit. "Die Rehe und Hasen haben mir quasi in die Wiege geguckt." Gleich hinterm Haus gab es einen richtigen Wasserfall; der Hang daneben diente bis zu 15 Kindern als Rodelbahn. Sie führte bis hinunter auf die Wiesen jenseits der Heinrich-von-Bibra-Straße - die noch nicht groß befestigt war.

Würde dort heute jemand zur fröhlichen Rodelfahrt ansetzen, der Kurgärtner würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Doch laut Ritter war der heute stark gegliederte Hang eine Wiese; die kunstvolle Bepflanzung existierte noch nicht.

Es kam der Krieg. Der zweite für Ritters Vater, der schon den ersten Weltkrieg miterlebte und 1939 eingezogen wurde.

Sohn Siegfried erinnert sich an den strengen Winter 1942/43 ohne Vater, als die Kinder mit angezogenen Beinen auf ihren Stühlen saßen. Der Fußboden war einfach nicht warm zu bekommen.

Tagsüber legte man Ziegelsteine in den Ofen. In Decken gewickelt wärmten sie nachts das Bett. Es war die Zeit, als sich in Stalingrad das Kriegsglück gegen Hitler und sein Tausendjähriges Reich wandte. Und die Kur nur bescheiden weiterlief. Das Staatsbad diente als riesiges Lazarett.

Verwundete aus aller Herren Länder kamen dort an: neben Deutschen auch Russen, Franzosen, abgeschossene englische Flieger.

Luxus mitten im Krieg

Siegfried Ritter erinnert sich an den Geruch von Eiter und Äther, spricht von "Elend pur". Aber auch davon, dass er und andere Kinder Süßigkeiten an die darbenden Soldaten verteilten. Die Kreisleitung hatte sie wohl organisiert - woher auch immer. Noch heute wundert sich Ritter über diesen Luxus. Und erzählt, dass quer über das Kursaalgebäude ein Banner hing mit dem Zeichen des Roten Kreuzes - in der Hoffnung, dass Tiefflieger Gnade walten lassen.

Der Krieg endete und der Vater kehrte heim, wenn auch von Hunger und Verletzung gezeichnet. Im Staatsbad spross das Gemüse in Beeten; die Bewohner spielten auch in den Wäldern Selbstversorger. So richtig aufwärts ging es für die Ritters wie für viele Deutsche erst mit der Währungsreform 1948.

Auch die Kur lebte wieder auf, wenn auch mehr staatlich organisiert. Die Kurgäste stammten aus der breiteren Bevölkerung.

Bis 1955 blieb Familie Ritter hinter dem Fürstenhof wohnen; dann zog sie ein paar Meter weiter Richtung Stadt Brückenau um - an die Remise. Es blieb eine Zwischenunterkunft, denn wenige Jahre später bauten die Ritters am anderen Ende des Staatsbades - im Straßfeld.

Siegfried Ritter, inzwischen volljährig, zog zwar mit. Doch eigentlich zog es ihn schon 1955 in die Welt hinaus. Das erste und einzige Mal im Leben. Er wurde Polizist, diente in den 1960er-Jahre in Zirndorf bei Nürnberg.

Es wäre wohl eine Episode geblieben, hätte der Staatsbad-Ureinwohner nicht von dort seine Frau Helma mitgebracht. Das Paar bekam Zwillinge, zwei Söhne. Heute betreiben die Eheleute eine kleine Pension - das Haus Ritter. Es ist das Heim, das die Eltern mit ihm und seiner Frau im Straßfeld gebaut haben.

Und die ursprüngliche Wohnung am Fürstenhof? Verfiel. Ohnehin nicht mit der besten Bausubstanz ausgestattet, fand sich kein Nachmieter. Siegfried Ritter weiß nicht, wann der Hauptbau abgerissen wurde. Es war zwischen 1955 und 1979. In letzterem Jahr entstand der Ostflügel am Fürstenhof - ein historischer Nachbau. Ein Foto belegt: Das Haupthaus des Ritter-Baus stand 1979 nicht mehr.

Der "echte" Kurgast fehlt

Stehen blieb das kleinere Haus, das Ritterhäuschen. Darunter kennt es auch Kurdirektorin Andrea Schallenkammer. Als vergangenes Jahr der Fürstenhof für den Einzug einer Privatklinik saniert wurde, musste auch ein Großteil des historischen Pavillons weichen. Die Substanz war zu schlecht. "Wir konnten nur ein paar Balken retten. Und die zwei Türen." Immerhin wurde es wieder aufgebaut, die alten Teile integriert.

Heute freut sich Siegfried Ritter, dass sein Staatsbad sich in einem "Topp-Zustand" befindet. "Ein wunderbarer Ort der Besinnung und der Umgebung des Friedens." Auch wenn weniger Besucher da seien, als noch vor 25 Jahren. "Vor allem der echte Kurgast, der hier seine Bäder nimmt, zum Kurarzt geht, privat wohnt und mal 15 000 investiert für vier Wochen, der fehlt. Das bedauere ich."