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Bad Brückenau: Mit Achtsamkeit gegen Stress


Autor: Stephanie Elm

Bad Brückenau, Sonntag, 04. November 2018

Mit einfachen Tipps raus aus dem Hamsterrad
: Ob das Wasser des Georgi-Sprudels schmeckt oder nicht, soll nicht bewertet, sondern einfach nur wahrgenommen werden. Die Tinnitus-Selbsthilfegruppe trinkt mit Heilpraktiker Guido Sauer (links) ganz bewusst.


In unserer schnelllebigen Zeit ist es im Alltag oft besser, wenn gewisse Dinge automatisiert ablaufen. Die Gangschaltung beim Autofahren betätigen, Einkäufe aufs und vom Kassenband legen oder beim Zeitungslesen nebenbei noch den Kaffee trinken. Aber hat man die satten Herbstfarben gesehen, an denen man vorbeigefahren ist? Oder den netten Akzent der Dame in der Warteschlange gehört, oder den Geschmack des Kaffees richtig wahrgenommen?

Das bewusste Wahrnehmen der Eindrücke im Hier und Jetzt, auch der eigenen Körperempfindungen, ist ein Aspekt von Achtsamkeit oder Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR). Eine Tinnitus-Selbsthilfegruppe aus Marktredwitz war in die Kurstadt gereist, um dies bei Guido Sauer zu erfahren. Doch auch gesunde Menschen profitieren von MBSR. Der Schnelllebigkeit entfliehen ist für jeden sinnvoll, denn Achtsamkeit wird auch als Präventionsmaßnahme gegen Stress, Burnout und Depression eingesetzt und von Menschen angefragt, die einfach bewusster leben wollen, berichtete Guido Sauer.

"Es passt zum Ort", so Kathrin Romeis-Merten von der Tourist Information. Die Lage der Stadt, das Heilwasser und die Umgebung seien ideale Rahmenbedingungen, wenn man sich etwas Gutes tun möchte. Der Bayerische Heilbäderverband hat gemeinsam mit den Kurorten eine indikationsbedingte Marketingstrategie beschlossen. Im Rahmen des Markenprozesses hatten die Kurorte die Möglichkeit, an einem Coaching teilzunehmen, erzählt Romeis-Merten. In einem Workshop 2017 erhielt die Stadt durch das "Projekt M" wertvolle Hinweise und Informationen sowie die Empfehlung, das Thema "Achtsamkeit" in die städtischen Gesundheitsangebote aufzunehmen. Es hat sich gelohnt. Die Zertifizierung "Gesundes Bayern" erhielt die Stadt Mitte Juni für drei Jahre. In dieser Zeit werden zusätzlich Achtsamkeitsprogramme in Bad Brückenau stattfinden. Die Stadt beabsichtige aber, das Thema "Achtsamkeit" und "mentale Gesundheit" im Rahmen "Bad Brückenau als Gesundheitsstadt" weiter auszubauen, so Romeis-Merten. Die Achtsamkeitstage seien nicht das Alleinstellungsmerkmal, sondern eine "hervorragende Ergänzung" zu bereits bestehenden Gesundheitsangeboten. Die Resonanz von Besuchern in den sozialen Netzwerken ist bereits jetzt durchweg positiv.

"Der Bedarf ist auf jeden Fall da", bestätigt Romeis-Merten. "Es ist nicht nur ein Trend!" betont sie, "sondern ein wichtiger Ansatz für die weitere Marketingstrategie der Stadt".

Guido Sauer hatte in seiner Arbeit bei der Malterser Klinik ebenfalls erfahren, "wie groß der Bedarf ist". Immer nur funktionieren hinterlasse Spuren, häufig in Krankheiten resultierend. Viele möchten lernen, "aus dem Autopilot auszusteigen und die Aufmerksamkeit auf den Körper, die Gegenwart oder die Stimmung zu lenken". Aus eigener Kraft könne man festgefahrene Emotionen durchbrechen. Mit den klassischen Entspannungstechniken habe Achtsamkeit Gemeinsamkeiten. "Achtsamkeit ist umfassender und vielfältiger. Sie wirkt oft beruhigend, kann aber auch Präsenz und Wachheit hervorrufen", erklärt der Heilpraktiker für Psychotherapie. Für ihn sind die kleinen Achtsamkeitsübungen "in Fleisch und Blut übergegangen" und "geben dem Leben Färbung".

Das geht jedoch nicht nebenbei. Achtsamkeit muss geschult werden, nicht unbedingt lange, aber regelmäßig. Alltagstauglich ist Achtsamkeit allemal. Kein teures Equipment, kein Fitnessvertrag sind vonnöten, jeder Impuls kann achtsam neu bewertet werden: Beim Essen aus dem Fenster sehen, die ersten Schritte aus dem Haus bewusst gehen oder die nächste Ampel nicht "kriegen müssen", sondern langsam anhalten.

Reflexe schützen den Körper, wie zum Beispiel bei Kälte. Doch verharren viele Menschen in Automatismen wie in einem Hamsterrad. Durch Achtsamkeit kann man hier aussteigen. Der Grund liegt laut Sauer in der Amygdala, einem Teil des Gehirns, die Vorgänge langsamer als Reflexe verarbeitet. "Hier kann man mental eingreifen", so Sauer. Achtsamkeit bei Tinnitus hat gute Effekte, da es Gemeinsamkeiten mit Schmerz aufweist. Aus der Schmerzforschung von Jon Kabat-Zinn hatte sich die MBSR entwickelt (siehe Info). Sowohl chronischer Schmerz als auch Tinnitus sind dominierend, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und lösen Gedankenketten, Befürchtungen und sogar Ohnmachtsgefühle aus.

"Aufmerksamkeitsumlenkung" nennen die Teilnehmer der Tinnitus-Gruppe die Möglichkeit, dem zu entgehen. "Paradoxerweise kann die bewusste Beschäftigung mit den lästigen Ohrgeräuschen dafür sorgen, dass sich die Bewertung von Tinnitus verändert", erklärt Guido Sauer. Eine ehemalige Patientin habe ihren Tinnitus einen "Kobold" genannt, "der ihr etwas zu sagen hat". Stresshormone seien zeitlich begrenzt sinnvoll, doch müsse man auch wieder "runterfahren" und seine Aufmerksamkeit fokussieren können: "Sonst verpasst man das Hier und Jetzt".

Durch die "Prise Achtsamkeit", die Guido Sauer den Teilnehmern in Theorie und praktischen Übungen vermitteln konnte, nimmt jeder für sich etwas mit. "Es geht darum, dass es uns gut geht", so eine Teilnehmerin. Tinnitus ist nicht heilbar, doch haben die Betroffenen bereits viel unternommen, den Umgang mit den dauerhaften Ohrgeräuschen und Beeinträchtigungen zu lernen. "Es ist ein gutes Gefühl, bei sich zu sein" und "Auch das kühle Wetter kann man positiv bewerten" sind nur zwei Impulse, die die Teilnehmer mit nach Hause nehmen.

INFO:

Ende der 1970er Jahre entwickelte der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn ein Acht-Wochen-Programm für chronische Schmerzpatienten. Studien belegten, dass dies vielfältige Auswirkungen auf den Umgang mit Stress hatte. Varianten wie MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) oder MBTR (Mindfulness-Based Tinnitus Therapy) kamen im Laufe der Zeit hinzu.

Für 2019 und 2020 koordiniert die Stadt derzeit die Termine für die nächsten Achtsamkeitstage. Informationen bei der Tourist-Information unter 09741 80411 und tourismus@bad-brueckenau.de