Amtsgericht in Bad Kissingen: Plötzlich war es ganz ernst
Autor: Thomas Ahnert
Bad Kissingen, Dienstag, 20. Mai 2014
Im Amtsgericht haben junge Leute Richter und Angeklagter gespielt. Dabei ist erstaunlich viel Ernsthaftes herausgekommen.
Eigentlich hat Tobias (17) fast nichts gemacht. Er hatte in der betreuten Wohngemeinschaft, in er der seit dem Unfalltod seiner Eltern lebt, seiner Mitbewohnerin Lisa im Streit nur ziemlich heftig den Arm umgedreht, als es um ihren Rucksack ging, in dem noch sein Geldbeutel war. Und dann hatte er sie auch noch unflätig beschimpft.
Eigentlich kein Weltuntergang. Aber irgendjemand muss die Polizei informiert haben, und die hat den Fall an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Jetzt hockt er hier im Sitzungssaal des Bad Kissinger Amtsgerichts und muss zudringliche Fragen beantworten, muss Auskunft geben über sich selbst. Und seine Freude sitzen im Publikum.Die Fragen gehen immer weiter in die Tiefe. Gut, er neigt manchmal zu Gewalttätigkeiten. Das will er gar nicht bestreiten. Aber irgendwie ist er auch noch nicht über den Tod seiner Eltern hinweg gekommen.
Über Möglichkeiten einer Wiedergutmachung an Lisa hat er sich noch keine Gedanken gemacht.
Tobias hat Glück. Er kann den Gerichtssaal wieder als freier Mann verlassen. Ein paar Auflagen hat er schon bekommen. Aber die belasten ihn nicht so, dass er niedergeschlagen sein müsste. Und eigentlich hätte ja auch Céline verurteilt werden müssen. Aber die stand nicht zur Verfügung, und da ist er kurzerhand als Angeklagter eingesprungen.
Selbstlosigkeit war da nicht gefordert. Was im Saal über die Bühne ging, war ein hochinteressantes Projekt des Bad Kissinger Gerichts mit zwei 11. Klassen der Fachoberschule Schweinfurt. Schließlich ist ja die "Woche der bayerischen Justiz". Aufgabenstellung war die Durchführung von Jugendstrafverfahren. Bei einem Fall hatten die jungen Leute in ihrer Schule schon geübt. Jetzt, in einem richtigen Gericht, war Schlusss mit lustig.
Das ging dem Publikum nahe
Es war erstaunlich, mit welcher Ernsthaftigkeit und welchem spontanen Einfühlungsvermögen das Gericht zu Werke ging, wie gut sich der Angeklagte in seine Rolle versetzt hatte, wie aufmerksam und beeindruckt das junge Publikum die Verhandlung verfolgte.
So ganz geheuer war es nämlich niemandem, weil alles so realistisch war: "Das wird mir noch lange nachgehen, obwohl ich wirklich niemandem den Arm umgedreht habe und auch nicht zu Gewalttätigkeiten neige", sagt Tobias Schaller. Aber er hat sich selber gewundert, wie sehr er sich in seine Rolle vertieft hat, wie viel er auch über sich selbst ausgesagt hat, ohne es zu beabsichtigen. Dass da 60 Leute neben ihm saßen und ihm zugehört haben, hat ihn nicht gestört? "Nein", sagt er, da bekommt man vor lauter Konzentration so einen Tunnelblick, dass man seine Umgebung überhaupt nicht mehr wahrnimmt."
Eine Erfahrung, die das dreiköpfige Richtergremium bestätigt: Auch Franziska Dees (19), Raphael Stoll (19) und Bianca Stühler (17) fanden sich plötzlich in diesem Tunnel: "Wir hatten zu tun, in die ungewohnte Rolle zu finden und uns auf den Angeklagten einzulassen. Da sieht man nichts anderes mehr."
Überraschendes Urteil
Dass die Jury so einen guten Draht zu dem Angeklagten fand, lag nicht nur an der Sensibilität, sondern auch an der Gleichaltrigkeit der Beteiligten, an dem Umgang auf Augenhöhe und an dem Verzicht auf die gerichtsübliche Frontalsituation: Man saß an einem Tisch zusammen. Entsprechend sinnvoll war auch das Urteil: Tobias muss - nein, müsste - für seine Wohngemeinschaft einen Besuch in einem Klettergarten organisieren und anschließend für sie grillen.
Das klingt nun überhaupt nicht nach Rache. Der dahinter stehende Gedanke ist ein anderer: Wenn eine Gruppe klettern geht, muss sich jeder auf den anderen verlassen können. Und das erfordert Vertrauen von allen Seiten. Es war übrigens auffällig, dass alle Dreierteams, die sich aus dem Publikum gebildet hatten, um in der Verhandlungspause ein Urteil zu finden, die Integration des Jungen in (s)eine Gruppe für das vordringliche Ziel hielten und entsprechende Maßnahmen vorschlugen.
Dr. Matthias Göbhardt, der Chef des Amtsgerichts, geriet nicht nur angesichts der Ernsthaftigkeit des Treibens, sondern vor allem wegen des Urteils geradezu ins Schwärmen. Die Idee mit dem Klettergarten hatte es ihm so sehr angetan, dass er sie in das Repertoire seiner Urteile aufnehmen will: "An die Möglichkeit habe ich noch nie gedacht", stellte er fest. Er hätte vermutlich auf Sozialstunden mit Behinderten entschieden, damit der Angeklagte merkt, dass es Menschen gibt, denen es schlechter geht als ihm. Aber so hat der Angeklagte mehr vom Urteil.