Abschied und ein Gedenken
Autor: Gerhild Ahnert
Bad Kissingen, Montag, 26. Juni 2017
Der Pianist Jan Lisiecki eroberte mit Chopin das Publikum im Sturm. Aber für das BBC Symphony Orchestra war es wohl das letzte Konzert im Großen Saal.
Der Abschiedskummer stand vielen Orchestermitgliedern ins Gesicht geschrieben: Nach vielen Konzerten an seinem "Lieblingsspielort außerhalb Londons" gab das BBC Symphony Orchestra London - wie man hört - nun sein letztes beim Kissinger Sommer. Seine Markenzeichen bei den BBC Proms, dem größten Klassikfestival der Welt, waren auch diesmal evident: die enge Beziehung zur Neuen Musik und von Begeisterung für die Musiker der "New Generation" getragener neugieriger und sorgsamer Umgang mit solch jungen Virtuosen wie dem 22-jährigen kanadischen Pianisten Jan Lisiecki.
Der Hamburger Komponist Detlev Glanert war anwesend, als sie das Konzert mit seiner 2014 uraufgeführten Konzertouvertüre "Weites Land" eröffneten. Glanert nennt sie "Musik mit Brahms"; sehr abwechslungsreich und kurzweilig ist diese Fantasie für großes Brahms-Orchester auf Grundlage der ersten acht Noten von Brahms 4. Sinfonie und einer Verbindung der Tonsprache des 19. Jahrhunderts mit moderaten Anklängen an die Neue Musik. Dynamische Kontraste, voller Orchesterklang des 19. Jahrhunderts mit viel Arbeit für gelegentlich fast schmerzhaftes Blech und eine allgegenwärtige Pauke wechseln ab mit leisem Geigengeflüster, witzigen Kommentaren und murmelnden Stimmen bis zu einem fast minimalistischen ruhig-heiteren Ausklang. Mit dem erst 22 Jahre alten Kanadier polnischer Abstammung Jan Lisiecki stellte sich einer der Rising Stars der Pianistenwelt erstmals beim Kissinger Sommer vor. Der gertenschlanke Riese mit dem verschmitzten Jungengesicht zeigte in Frédéric Chopins 2. Klavierkonzert f-moll op. 21, warum er so hoch gehandelt wird. Beim vom Orchester sehr stürmisch genommenen Maestoso des 1. Satzes ließ er noch ein wenig Klarheit in den Verzierungen und der Strukturierung seines Parts vermissen, doch seine überragende Musikalität brach sich schon im Konzertieren mit dem Fagott und der Zartheit seiner Hinführung zu dem berühmten Thema des Konzertes Bahn. Im Larghetto-Satz mit seinem ominösen leisen Streicherbeginn schwang er sich mit großer Selbstverständlichkeit in den Orchesterpart ein, vermochte auch trotz der vielen Schmuckfiguren wie Triolen, Trillern und Zweiunddreißigstelläufen großartig mit den Orchestersolisten zu konzertieren und Chopins liedhafte Melodie am Ende verträumt, zurückgenommen und zart und makellos sauber und glasklar zu spielen.
Fast übermütig begann er das Allegro vivace und bewies bei diesem mit einigen polnischen Volkstänzen verquickten Rondo, dass seine Lockerheit auf absolut virtuoser Beherrschung seiner stupenden technischen Möglichkeiten beruht. Mit sichtlichem Gusto spielte er die vertracktesten Stellen; Verzierungen fordern seinen Spielwitz heraus und so verlor er nie den Überblick über die Struktur des Stückes und die Klammerfunktion des Hauptthemas. Er lieferte mit dem Orchester und seinem Chefdirigenten Sakari Oramo eine mitreißende Interpretation des Konzertes wie aus einem Guss, die in einem triumphalen Schluss endete. Die Zugabe, Chopins Nocturne op. 48 spiewlte Lisiecki nachdenklich und ruhig.
Mit Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 98, der sogenannten "Rheinischen" lieferte das Londoner Orchester nach Glanerts Hommage an das norddeutsche Tiefland einen weiteren Beitrag zur deutschen Länderkunde. Und sie taten das äußerst eindrucksvoll. Hier zeigte Oramo, dass es ihm durchaus um Tiefenschärfe geht, etwa bei den beißenden Trompeteneinwürfen im 1. Satz oder der raffiniert exponierten Basslinie in den Kontrabässen im 3., aber der Gesamteindruck und die Gestaltung eines jeweils perfekten Klanges für ihn im Vordergrund stehen. Und das gelang ihm mit seinen differenziert spielenden Streichern, seinen immer wieder absolut mitreißend auftrumpfenden Bläsern und seiner Auslotung all der dynamischen und rhythmischen Feinheiten dieser über weite Strecken heiteren, optimistischen, feierlichen Wohlfühl-Sinfonie mit ihrem fulminanten und strahlenden Ende.
In seiner Zugabe, einem Slawischen Tanz von Dvorak, erinnerte das BBC Symphony Orchestra an seinen im Mai verstorbenen früheren Chefdirigenten Jirí Belohlávek, der viele Male beim Kissinger Sommer zu Gast war.