Zu sechst auf einem Krad
Sie trafen erneut auf Soldaten, die sie in einem Motorrad mit Beiwagen und einem Auto mitnahmen. Mussten sie um sie Kurve, stieg ein Soldat aus dem Auto und trat gegen die Räder. Als das Gefährt aufgab, quetschten sich die drei Mädchen und die drei Soldaten auf das Krad.
Es kam zu einem Unfall, bei dem Charlotte Kleemanns Füße eingeklemmt wurden. Doch es ging weiter Richtung Frisches Haff: eine Art Becken, das durch eine schmale Landzunge vom Meer getrennt ist. Es liegt wenige Kilometer neben der Hafenstadt Danzig.
In Eis und Schnee über das Frische Haff
Rund 450.000 Menschen überquerten das zugefrorene Becken auf der Flucht, viele ertranken, andere starben in der Kälte. "Wir wateten bis zu den Knöcheln im Wasser. Wo kam das her, denn es waren immer noch Temperaturen um minus 20 Grad? Aus den Bombenlöchern?" Die sowjetischen Flugzeuge warfen laufend Bomben auf das Haff. An diesem Tag legten sie wohl eine Ruhepause ein. "Meine Füße schmerzten höllisch."
"Wir waren ganz verzweifelt"
"Wir liefen und liefen, setzten mechanisch einen Fuß vor den anderen. Es wurde dunkler, wir wussten nicht mehr, wo wir waren. Gingen wir vielleicht im Kreis wieder aufs Festland zu? Wir waren ganz verzweifelt."
Doch sie schafften es zur Landzunge und in einen Zug nach Danzig. "Ich hatte mich 14 Tage nicht getraut, meine Schuhe auszuziehen, aus Angst, dass ich sie nicht mehr anbekomme." Nach wenigen Tagen erhielten sie die Order, "in einen Zug Richtung Reich zu steigen."
Allein im Wald
Sie kamen nur bis Stolpmünde. Dort kamen sie bei einer Familie unter, bis die Russen auch dieses Dorf erreichten. Die drei Mädchen rannten in den Wald. "Wie sollte es weitergehen? Wo sollten wir hin? Wo ist Stettin, wo Danzig, wo die Ostsee? Wohin führt der Weg, der weiter in den Wald geht?"
Zu alldem hörten sie Geräusche von Soldaten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Deutsche, auf dem Weg nach Danzig. Sie nahmen sie mit. Es begann ein schwerer Weg durch umkämpftes Gebiet: "Irgendwie überquerten wir auch die Hauptkampflinie und als wir wieder auf deutschem Boden waren, fielen wir in irgendeinem Haus nach drei Tagen und zwei Nächten fortwährenden Marschierens einfach zu Boden."
Von stürmenden russischen Soldaten geweckt
Das Geräusch stürmender Russen weckte sie, sie flüchteten: "Hinterher geschossen haben sie. Die Kugeln zischten uns um die Ohren und pitschten vor und neben uns in den gefrorenen Boden."
Sie gelangten wieder nach Danzig. Dort flehten sie Soldaten an, sie mitzunehmen.
Tieffliegerangriffe auf dem Schiff
Tatsächlich nahm sie ein kleines Schiff der Handelsmarine auf. Es hatte kaputte Fahrzeuge geladen, die nach Deutschland zur Reparatur sollten. Es war bereits durch zwei Tieffliegerangriffe beschädigt und in Danzig notdürftig repariert worden.
An Bord und unterwegs wurde es erneut getroffen. "Die Maschine musste getroffen sein, denn es dümpelte nur so vor sich hin." Weil sie bei den Büroarbeiten halfen, gab es täglich einen Teller Suppe, ihre einzige Nahrung. "Zehn oder elf Tage haben wir gebraucht bis Hamburg."
Schule wird zum Lazarett
Dort war die Nachbarstochter Ortrun am Ziel bei ihrer Tante. Weil Charlotte Kleemanns Ziel, Remscheid, bereits von den Amerikanern eingenommen war, fuhr sie mit Sekretärin Gerda in einem Zug zu ihrer Tante nach Kirchmöser bei Brandenburg. Dort kamen sie am Karfreitag, den 30. März 1945 an. Charlotte Kleemanns Knie entzündete sich, woraufhin sie im Handwagen in eine zum Lazarett umgebaute Schule kam.
"Die Mädchentoilette als OP, weil die gekachelt war. Die Ärztin punktierte mein Knie und holte eine ganze Brechschale voll schwarzer Brühe heraus und empfahl Kühlung." Das Knie machte nicht zum letzten Mal Probleme.
Plünderung und Vergewaltigung
Als die Russen ins Dorf kamen, war die Kapitulation bereits erfolgt. "Was sie aber nicht daran hinderte zu vergewaltigen und zu plündern." Auch zu ihnen kamen sie ins Haus. Die Schwägerin der Tante "musste daran glauben". Kleemanns Haare hatte Gerda zu Zöpfen geflochten, dass sie jung, wie ein Kind wirkte.
Im Juli, als die meisten Soldaten aus dem Lazarett entlassen wurden, bekam Kleemann wegen ihres Knies ein Bett. Elf der zwölf Betten in ihrem Zimmer waren mit Frauen belegt, die gerade eine Abtreibung hinter sich hatten.
" in einer ganz eigenartigen Situation"
Im Herbst machte sie sich mit dem Neffen der Familie gen Westen auf. Sie schloss sich einer Gruppe Kölner an, um über die innerdeutsche russische Grenze zu gelangen. Mitte November kam sie in Köln an und bei Bekannten in einer Kammer unter.
"Ich befand mich in einer ganz eigenartigen Situation, stand vor allem noch unter dem Eindruck meiner Krankheit, den Erlebnissen auf der Flucht, dem Verlust der Heimat und des Nichtwissens über das Schicksal meiner Eltern und der anderen nächsten Verwandten." Von den 23 blieben sieben übrig. Ihr Vater war in Gefangenschaft.
Wiedervereint mit Mutter und Bruder
Es verschlug sie nach Kassel, wo sie auf ihre Familie hoffte. Untergekommen in einem guten Haushalt blieb sie dort. Seinerzeit wog sie etwa 35 Kilo und hatte eine Blutvergiftung durch die Entzündungen im Knie.
Kurz vor Weihnachten 1948 kamen ihre Mutter und ihr Bruder aus Dänemark zurück nach Wolfshagen in ein Flüchtlingslager. Die Mutter sorgte dafür, dass sie und der Bruder trotz Zuzugssperre nach Kassel eingewiesen werden. "1955 bekamen wir eine Wohnung und von da an ging es bergauf."
Hintergrund
Wie Charlotte Kleemann machten sich die meisten der 2,5 Millionen Ostpreußen im Treck auf die Flucht, die zum Teil über das Eis des zugefrorenen Frischen Haffs führte. Viele Trecks wurden beschossen, überrollt und geplündert.
Es starben mindestens 500.000 Menschen. Laut dem 1969 aufgelösten Bundesministerium für Vertriebene gab es rund 14 Millionen Deutschstämmige, die zwischen 1945 und 1950 vertrieben wurden. Von diesen kamen rund 2,1 Millionen um oder galten als vermisst. Das Elend der Vertriebenen war groß. Sie besaßen oft nur noch das, was sie auf dem Leibe trugen.emue