Wotan liebäugelt mit seiner Schwägerin Freia
Autor: Monika Beer
Leipzig, Montag, 20. Mai 2013
In Richard Wagners Geburtsstadt Leipzig startete mit dem "Rheingold" ein neuer "Ring". Dirigent Ulf Schirmer zelebriert Pathos und Langsamkeit, Regisseurin Rosamund Gilmore setzt vor allem aufs Bewegungsensemble.
Ein Einheitsbühnenbild kann manchmal ganz schön praktisch sein und - besser noch - Kosten sparend. Zumal wenn es, wie vermutet werden darf, nicht nur die drei verschiedenen Spielorte in "Das Rheingold", dem Vorabend von Richard Wagners "Ring"-Tetralogie, illustriert, sondern auch die neun weiteren. Allerdings hat es einen Nachteil: Was passiert auf der Bühne, wenn die eigens von Wagner komponierten Verwandlungsmusiken laufen? Geht dann der Vorhang zu?
In der Leipziger "Rheingold"-Neuinszenierung bleiben der Vorhang und Fragen offen. Nicht nur, was den aufwändig eingespielten und doch nur kuhglockenartigen Klang der Nibelungenambosse betrifft. Denn was die vom Ballett her kommende Regisseurin Rosamund Gilmore mit ihrem Bewegungsensemble veranstaltet, ist oft nur Augenwischerei.
Ein ballettöses Wisch & weg
Aber ihre wesentliche Funktion ist und bleibt der Umbau, der hier mit ballettösem Bewegungsvokabular verbrämt wird: Sie agieren als Putzkolonne, die mit elegantem Körpereinsatz das Rheinwasser aus dem ersten Bild wegwischt, sie tragen das noch stoßfest eingepackte Mobiliar und das in Plastikkisten verstaute Nibelungengold in den variablen Treppenhausraum und bringen es wieder weg. Das sieht alles nicht schlecht aus, ist gut gemeint, bringt aber das Drama nicht voran - und beißt sich vom Ansatz her auch mit den Intentionen Wagners, der dem Ballett bekanntlich lieber abhold war.
Der neue Leipziger "Ring" spielt in einer imaginären Gegenwart, zitiert in der Personenführung und in der Ausstattung (Bühne: Carl Friedrich Oberle, Kostüme: Nicola Reichert) die neuere Rezeptionsgeschichte und versucht, die Handlung brav, geradlinig und ohne interpretatorische Verbiegungen zu erzählen. Dass Rosamund Gilmore erst die vierte Frau ist, die die komplette Tetralogie inszeniert, merkt man einigen Details an, aber leider nicht der schwierigen Auftaktszene. Die Rheintöchter gerieren sich nicht als Naturwesen, sondern ziemlich nuttig - wie bei fast jedem männlichen Regisseur in den letzten Jahrzehnten. Immerhin braucht Urmutter Erda (mit viel Vibrato: Nicole Piccolomini) hier nicht allein aufzutreten, sondern wird von drei Nornen begleitet, die eigentlich erst in der "Götterdämmerung" auftreten.
Fricka übersieht die Seitensprünge notgedrungen
Wohltuend an dieser Inszenierung ist der eher nüchterne Blick auf die Hauptfiguren: Dass der noch ziemlich junge Wotan (als Rollendebütant beachtlich: Tuomas Pursio) immer wieder mal mit dem Taschentuch am lädierten Auge und dem üblen Schmiss darunter wischen muss, holt den Lichtalben ebenso vom göttlichen Sockel wie die Tatsache, dass er - "Wandel und Wechsel liebt wer lebt" - unter anderem auch was mit seiner offenherzigen Schwägerin Freia (Sandra Trattnigg) hat. Fricka (überzeugend: Karin Lovelius) ist die klassenbewusste und im Management gestählte Gattin, royal und lila bis in die Haarspitzen, schon etwas älter, weshalb sie Wotans Seitensprünge notgedrungen hinnimmt.
Die weiteren Götter Donner (Michael Kraus) und Froh (James Allen Smith) sind rollendeckend gut besetzt, von den Riesen Fasolt (Stephan Klemm) und Fafner (James Moellenhoff) hat ersterer für mich den größeren Hut auf, und das bestimmt nicht nur deshalb, weil ich diesen großartigen Sängerdarsteller früher wiederholt in Coburg und Nürnberg erleben durfte. Apropos: Vom letzten Nürnberger "Ring" ist mir Jürgen Linns Wotan noch in guter Erinnerung. In Leipzig ist er souverän vom Lichtalben zum Schwarzalben mutiert: Sein Alberich ist der klassische Underdog, der sich als aufgestiegener Industrieller gerne ein Toupet gönnt. Als dessen Bruder Mime agiert und singt zwergenhaft brillant Dan Karlström.
Auch Loge entpuppt sich als Dieb
Halbgott Loge (bravourös: Thomas Mohr) wirkt in Habitus und Körpersprache wie die Summe der Brandstifter-Figuren aus Max Frischs Lehrstück. Und weil er selber ein paar Stücke vom Nibelungenhort klaut und in seiner Aktentasche verschwinden lässt, schämt er sich am Ende doch nicht so sehr, mit den ihrem Ende zueilenden Göttern zu schaffen zu haben. Sondern er rennt ihnen Hals über Kopf hinterher, die Treppe hinauf.
An sich ein nicht uninteressanter Gedanke. Nur leider wird er musikalisch torpediert, indem Intendant und Generalmusikdirektor Ulf Schirmer nicht nur den "Rheingold"-Schluss so pathetisch dirigiert, als wollten in erster Linie er und das Gewandhausorchester sich wie die göttlichsten Götter selig im Wagnerglanz sonnen. Das geht leider zu Lasten der Solisten, die bei der besuchten zweiten Vorstellung zum Teil und immer wieder mit der instrumentalen Lautstärke zu kämpfen hatten. Und mit den langsamen, den dramatischen Fluss behindernden Tempi. Zwei sehr lange Stunden und vierzig Minuten dauert das Leipziger "Rheingold". Wie rief doch schon im November 1878 Wagner frustriert aus: "Nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher mein Tempo kennt!"