Wer will, darf mit Tocotronic für immer jung bleiben
Autor: Christoph Hägele
Erlangen, Freitag, 12. April 2013
Gute Rockmusik kennt kein Alter. Auch jenseits der 40 begeistert die Hamburger Band Tocotronic mit viel Witz und krachenden Songs das kaum jüngere Publikum im Erlanger E-Werk.
Wer über Mick Jagger lästert, darf über Dirk von Lowtzow nicht schweigen. Wo der eine seine Hüften noch mit 70 Jahren lustvoll kreisen lässt und anzüglich mit der Zunge schnalzt, trägt der andere ein keckes Ringel-Shirt und schüttelt das grau werdende Haar. Mag von Lowtzow auch knapp 30 Jahre jünger sein als der Rolling-Stones-Frontmann: Am Mikrofon einer Rockband ist auch ein 42-jähriger Mann eine erklärungsbedürftige Erscheinung.
Aber etwas seltsam Unzeitgemäßes haftet ja vielen an, die da am Donnerstag das Konzert seiner Band Tocotronic im ausverkauften Erlanger E-Werk besucht haben. Es sind Jungs und Mädchen, die längst Männer und Frauen sind, aber oft noch das Leben von Jungs und Mädchen führen.
Müssten sie jetzt nicht über dem Schlaf ihrer Kinder wachen (die in Wirklichkeit noch nicht geboren sind) und sich den Kopf zermartern über die Hypotheken auf ihren Häuser (die in Wirklichkeit noch nicht gebaut sind)?
Mit Scherz und Schabernack
Stattdessen holen sie sich ein Bier, wiegen ihre Hüften im Rhythmus der Gitarren, und kaufen sich später ein T-Shirt. Darauf steht dann geschrieben: "Wie wir leben wollen". So. Genau so wollen sie vermutlich leben.
Während man noch rätselt, ob das jetzt lässig oder peinlich oder vollkommen gleichgültig ist, spielen Tocotronic das Lied "Sag alles ab". Da fällt es einem wieder ein: Erwachsensein ist ja kein Verhängnis oder Naturgesetz, sondern auch nur ein gesellschaftliches Konstrukt. Und wer sagt denn, dass es die Eltern mit ihrem Refrain aus Kind, Haus und Fernsehen auf der Couch besser gemacht haben? Jede Generationen hat das Recht und auch die Pflicht, für sich neu bestimmen, was das bedeutet: erwachsen sein.
Diese Freiheit ist eines der großen Versprechen der Popkultur, das Bands wie die Rolling Stones einst formuliert und Bands wie Tocotronic an die deutschen Verhältnisse der Gegenwart angepasst haben. Ohne die Drogen und den Sex zwar. Dafür mit dezenter Gesellschaftskritik, männlicher Hysterie und ganz viel Scherz und Schabernack. "Wer zuviel selber macht/ wird schließlich dumm/ausgenommen Selbstbefriedigung" singen sie.
Dass das Gehirn ausgerechnet auf einem Rock-Konzert Gedanken über das richtige und falsche Leben produziert, ist das Verdienst der geistig stimulierenden Texte und Slogans von Tocotronic: "Macht es nicht selbst". Oder "Aber hier leben, nein Danke". Oder "Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools".
Tocotronic unterhalten niemals unter Niveau. Selbst noch die Ansagen waren charmant und von angemessen intellektueller Spleenigkeit. Auf der anderen Seite rückt die Begeisterung für ihre Texte das musikalische Können von Jan Müller, Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Rick McPhail unzulässig weit in den Hintergrund.
Musik als Dienstleistung
Der aggressive Dilettantismus früherer Tage ist Geschichte. Heute ragt selbst ein so zart komponiertes Lied wie "Wie wir leben wollen" im Repertoire der Band kaum mehr hervor.
Rockmusiker zu sein, bedeutet immer auch Dienstleister zu sein. Ohne sein "Satisfaction" kommt Mick Jagger von keiner Bühne der Welt. Und weil die Fans von Tocotronic ein besonders nostalgisches Verhältnis zu ihrer Lieblingsgruppe pflegen, hat die Band in Erlangen viel Altes gespielt: "Freiburg". "Drüben auf dem Hügel" und als letztes Lied des Abenda das zum Heulen schöne "17". Wirklich großartig war das.
20 Jahre gibt es Tocotronic jetzt schon. "Morgen wird wie heute sein", haben sie vor Jahren einmal gesungen. Vielleicht wäre das gar nicht mal so schlimm. Im Jahr 2033 wird Dirk von Lowtzow zarte 62 sein. Jung genug, um über Fahrradfahrer, den Teufel und die Revolution zu singen.