TSV-Gesetz: Ärzte kündigen längere Wartezeiten in Praxen an
Autor: Julia Gebhardt
Berlin, Sonntag, 28. August 2022
Bereits ab September kann es in Arztpraxen zu erheblich längeren Wartezeiten kommen. Der Grund: Gesundheitsminister Karl Lauterbach plant die Abschaffung eines Gesetzes, das er selbst noch bei dessen Einführung 2019 unterstützte. Was steckt hinter dem sogenannten "TSV-Gesetz"?
Ab September soll es in Arztpraxen zu langen Wartezeiten kommen. Der Grund: Der Gesundheitsminister Karl Lauterbach plant die Abschaffung des TSV-Gesetzes, des "Terminservice- und Versorgungsgesetzes." Vor seinem Amtsantritt als Bundesgesundheitsminister hatte er dessen Einführung aber begrüßt. Woher kommt sein Sinneswandel? Der Bayrische Rundfunk berichtete.
Das TSV-Gesetz ist im Jahr 2019 unter dem damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eingeführt worden. Es sollte bewirken, dass Patienten schneller einen Termin bei Fach- oder Hausärzten erhalten. Denn die Situation in den Arztpraxen war damals prekär: Häufig mussten Patienten monatelang auf einen Termin warten, wenn sie überhaupt einen bekamen. Neue Patienten wurden oft gar nicht mehr in die Kartei aufgenommen.
Lauterbach will es abschaffen: Was ist das TSV-Gesetz?
Mit den im Gesetz enthaltenen Regelungen für Mindestsprechstundenzahlen und offene Termine wurde eine Verbesserung der Situation angestrebt. So sah das Gesetz zum einen vor, dass mindestens 25 Stunden pro Woche von in Vollzeit arbeitenden niedergelassenen Ärzte als Sprechstundenzeit angeboten werden musste. Die Einführung der sogenannten "offenen Termine" betraf nicht alle Ärzte, sondern nur bestimmte Arztgruppen. Beispielsweise Haus- und Kinderärzte, Augenärzte, sowie Frauenärzte und Hals-Nasen-Ohrenärzte waren betroffen. Diese mussten ihren Patienten zusätzlich wöchentlich fünf offene Sprechstunden anbieten. Für diese wurde kein Termin benötigt.
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Als Ausgleich für den erhöhten Arbeitsaufwand, der mit diesen zwei Prinzipien einherging, wurde von der damaligen Regierung zusätzlich die Neupatientenregelung verabschiedet. Diese besagt, dass die Kosten für die Versorgung von Neupatienten nicht in das Gesamtbudget der Praxis mit eingerechnet wird. Was hat das zu bedeuten? Seit den 90er Jahren gibt es das System der Budgetierung von Arztpraxen. Durch dieses hat jede Arztpraxis pro Jahr ein festgelegtes Gesamtbudget für die Behandlung ihrer Patienten. Wird dieses Budget überschritten, verdienen die Ärzte mit allen weiteren Patienten weniger.
Alle niedergelassenen Ärzte einer Berufsgruppe schicken ihre Rechnungen an die Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Aus deren Topf werden die Behandlungen der Patienten abgerechnet - doch meistens reicht der nicht aus. Daher müssen viele Ärzte auf einen Teil ihres Honorars verzichten, um die zusätzlichen Kosten zu decken. Bei einem Überschreiten des Budgets von mehr als drei Prozent droht zudem ein Regress, also ein Prüfverfahren. Dieses solle sicherstellen, dass die Ärzte nicht immer die teuerste Behandlung verschreiben.
Im TSVG enthalten: Die Neupatientenregelung - ZI weißt Nutzen nach
Der "anhaltende Regressdruck" führe dazu, dass "man seine Patienten nicht mehr optimal versorgen kann", bemängelt Dr. med. Wilhelm Ehleben im Aerzteblatt. Der Allgemeinarzt aus Dortmund musste mit rund 65.000 Euro haften, weil er seinen Patienten zu viel Physiotherapie verordnet hatte. Das System wird seit Jahren kritisiert, weil die niedergelassenen Ärzte auch von Faktoren abhängig seien, die sie nicht kontrollieren könnten - beispielsweise Medikamentenpreisen. Doch zurück zu der Neupatientenregelung: Sie ermöglicht es Ärzten, die Behandlung eines neuen Patienten bei der KV voll abzurechnen, selbst wenn das Budget eigentlich schon erschöpft ist. So erhalten die Ärzte die Chance, pro Jahr mehr Patienten zu versorgen.
"Ein Quantensprung für die Beseitigung der erheblichen Zwei-Klassen-Medizin" - so nannte Lauterbach das TSV-Gesetz noch 2019. Woher kommt also sein Meinungsumschwung? Die Antwort ist relativ simpel: Lauterbach muss sparen. Für das kommende Jahr braucht er etwa 17 Milliarden für das Krankenkassenbudget - mindestens. Selbst durch Beitragserhöhungen lässt sich das nicht allein auffangen. Lauterbach kündigte zu dem Thema an: "Wir werden versuchen, die Lasten auf mehrere Schultern zu verteilen." Gemeint sind damit Pharmaindustrie, Apotheker, Ärzte und Beitragszahler.