Nicht ein einziges Buh im Nürnberger Staatstheater
Autor: Monika Beer
Nürnberg, Freitag, 05. Oktober 2018
Dem neuen Leitungsteam des Staatstheaters Nürnberg gelingt mit der Prokofjew-Oper "Krieg und Frieden" ein fulminanter Auftakt. Entsprechend begeistert war das Premierenpublikum.
Wenn ein inszenierender Intendant seine Antrittsaufführung plant, hat er im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder nimmt er sich ein bekanntes Werk vor, um zu zeigen, dass und wie er es anders kann. Oder er wählt eine Oper, die das Publikum noch nicht kennt und darüber hinaus Außergewöhnliches bietet. Jens Daniel Herzog hat sich für das Faszinosum des Neuen und durchaus auch sperrig Unbekannten entschieden. Mit großem Erfolg.
Nach dem Motto "Nicht kleckern, sondern klotzen" wählte der neue Generalintendant des Staatstheaters Nürnberg ein dort noch nie gespieltes, schon in seinen bloßen Ausmaßen unkonventionelles Musiktheaterstück. Sergej Prokofjews 1944 uraufgeführte und später mehrfach überarbeitete Oper "Krieg und Frieden" nach dem gleichnamigen Roman von Leo Tolstoj ist ungekürzt fast so lang wie Richard Wagners "Meistersinger", übertrifft letztere aber in einem Punkt bei weitem: 72 Personen zählt die Fassung von letzter Hand aus dem Jahr 1959.
Mehrere Zeitebenen
Natürlich haben Herzog, seine Dramaturgen und Joana Mallwitz, die neue Generalmusikdirektorin, gekürzt, vor allem im zweiten kriegslastigen Teil.
Herausgekommen ist dabei ein großes historisches Stationendrama, dessen Handlung in mehreren Zeitebenen spielt: In einer zeitlos wirkenden Gegenwart werden nicht nur die Jahre vor und bei Napoleons Russlandfeldzug von 1812 gespiegelt, sondern auch die Entstehungszeit sowohl des Romans (mit den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts) als auch der politisch durchaus heiklen Oper (mit den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts).
Texteinblendungen zu Beginn der dreizehn Bilder geben Orientierung, die seitlichen Übertitel sind im russisch gesungenen Original eine zusätzliche Verständnishilfe an diesem auch fürs Publikum anstrengenden Abend. Schon allein die Leistung der Ausstatter und der dahinter stehenden Werkstätten ist grandios. Sibylle Gädeke lässt in ihren mehreren hundert zeitgenössischen Kostümen gekonnt historische Bezüge aufscheinen, und wie Mathis Neidhardt auf seiner schwarzen Bretterklappbühne im virtuosen Licht von Kai Luczak in Nullkommanichts mit wenigen Teilen die tollsten Verwandlungen zaubert, ist sehenswert.
In diesen scheinbar einfachen und doch ausdrucksstarken Tableaux führt Jens Daniel Herzog ein Heer an Solisten, Choristen und Statisten abwechslungsreich, gut konturiert, bewegend und mit viel Bewegung. Die innerhalb von rund drei Jahren spielende Handlung kreist im Kern um drei Figuren: Natascha, Andrej und Pierre suchen sich selbst, ihr Glück und ihren Platz in einer Gesellschaft, die gespalten und in Auflösung begriffen ist. Dieses Panorama zwischen Ballsaal, Bordell und Botoxspritzen, Schlachtendonner, Sterbebett und russischer Seele ist vor allem deshalb so eindrücklich, weil die individuellen Schicksalsschläge zunehmend und beklemmend aufgehen in großen Massenszenen (Chöre: Tarmo Vaask) und im Kriegsgeschehen.
Ausdrucksstarker Tenor
Das Eine bedingt das andere, keiner kann sich dem Sog entziehen - schon gar nicht, wenn Moskau auch ohne Feuer auf der Bühne so überwältigend brennt wie hier.