Lehrkräftemangel an Grundschulen bald vom Tisch
Autor: dpa
, Donnerstag, 25. Januar 2024
Gibt es bald einen Lehrkräfte-Überschuss? Eine aktuelle Berechnung legt das nahe. Bildungsforscher sehen das als Chance.
Aus Mangel wird Überschuss: Einer Schätzung von Bildungsexperten zufolge wird es bald mehr Grundschullehrkräfte geben als Stellen. Eine aktuelle Prognose der Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass bis 2035 rund 45.800 Lehrkräfte im Primarbereich mehr fertig ausgebildet sind als benötigt werden, um den Unterricht abzudecken. Hintergrund sei eine Trendwende bei der demografischen Entwicklung. So sind zuletzt weniger Kinder geboren worden als noch bis 2021.
Den Berechnungen zufolge dürfte vielerorts bereits ab dem kommenden Schuljahr der lange herrschende Mangel an Grundschullehrerinnen und -lehrern überwunden sein, weil anders als noch 2023 mehr neue Lehrkräfte bereitstehen, als aus dem Beruf ausscheiden.
Spielraum für mehr Qualität an den Schulen
Ein rechnerisches Überangebot an Absolventen bedeute jedoch nicht notwendigerweise Arbeitslosigkeit für die Pädagogen, betonen die Studienautoren Klaus Klemm und Dirk Zorn. Vielmehr bekomme die Politik den Spielraum für Qualitätsverbesserungen, der heute fehle. So könnten die Lehrkräfte für den Ausbau der Ganztagsangebote genutzt werden oder um mehr Personal an Schulen in sozial schwierigen Lagen einzustellen, empfehlen die Experten. Außerdem schlagen sie vor, Grundschullehrer auch für den Einsatz in den fünften und sechsten Klassen weiterzubilden.
Abweichung von Studie der Kultusministerkonferenz
Mit ihrer Schätzung weicht die Bertelsmann-Stiftung deutlich von der Ende 2023 vorgelegten Prognose der Kulturministerkonferenz (KMK) ab, die für das Jahr 2035 einen Überschuss von nur 6300 Absolventen im Primarbereich ermittelt hatte. Hintergrund sei vor allem eine Trendwende bei der demografischen Entwicklung, die sich in den KMK-Berechnungen noch nicht niederschlage: So sei der Rückgang der Geburten 2022 und 2023 um mehr als 100.000 deutlicher ausgefallen als in den statistischen Angaben der Länder vorausberechnet. Auch für die Folgejahre schreiben die Studienautoren der Bertelsmann-Stiftung die nach unten korrigierten Schülerzahlen entsprechend fort.
Bundesbildungsministerin sieht «Silberstreif am Horizont»
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: «Die Studie der Bertelsmann Stiftung ist ein Silberstreif am Horizont.» Mehr Lehrkräfte im Grundschulbereich eröffneten Raum für einen Qualitätsschub. «Ich setze darauf, dass die Länder die Chance ergreifen und aus dem Plus an Personal ein Plus an Chancengerechtigkeit und an Grundkompetenzen wird.» Für eine Trendwende beim Lehrermangel sei aber noch viel zu tun. «Es gilt, den Lehrerberuf und das Studium attraktiver zu gestalten und Quer- und Seiteneinsteiger fortzubilden.»
Die KMK-Präsidentin, die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD), bezeichnete die Bertelsmann-Studie als «positive Aussicht». Sie erinnerte aber daran, dass seit langem sinkende Schülerzahlen prognostiziert worden seien - die Realität habe dann aber anders ausgesehen. Zudem gelte es, nicht nur die reinen Geburtenzahlen zu betrachten. «Wir müssen uns vor allem dem qualitativen Bedarf stellen.» Sie nannte zum Beispiel Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse und mit Fluchttraumata, die zunehmende Heterogenität der Schüler und Armut in Familien. Die Frage sei, ob die Lehrer den Bedürfnissen entsprechend ausgebildet würden.
Unterschiedliche Befunde je nach Region möglich
Grundsätzlich unterliegen Prognosen wie diese einer Reihe von Unschärfen. So sind nach Angaben des Bildungsexperten Zorn erwartbare Wanderungsbewegungen einbezogen, nicht jedoch «exogene Schocks, die große Fluchtbewegungen auslösen, wie ein neuer Krieg und Katastrophen». «Ein Grund mehr, zusätzliches Personal für ein resilientes Schulsystem zu nutzen», sagte Zorn. Außerdem beziehe sich die Betrachtung auf ganz Deutschland, so dass es für passgenaue Planung nach Bundesländern und Regionen differenziertere Berechnungen brauche: «Eine Überversorgung in der Großstadt schließt nicht aus, dass im ländlichen Raum händeringend nach Grundschullehrerinnen oder -lehrern gesucht wird», so Zorn.