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"Kreise/Visionen" am E.T.A.-Hoffmann-Theater: Jeder ist seine eigene Ich-AG


Autor: Christoph Hägele

Bamberg, Montag, 28. Januar 2019

Die Zwänge des Konkurrierens und Selbstoptimierens korrumpieren noch jeden menschlichen Ausdruck. Das E.T.A.-Hoffmann-Theater inszeniert mit Joël Pommerats "Kreise/Visionen" eine nachtschwarze Gesellschaftsgeschichte.
Eric Wehlan, Marie-Paulina Schendel, Bertram Maxim Gärtner, Corinna Pohlmann,  Florian Walter  und Denis Grafe   (v. l.)   in "Kreise/Visionen"  am Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater Martin Kaufhold


Im kulturellen, insbesondere an Sinnstiftung und Unterhaltung interessierten Kapitalismus unserer Tage ist erfolgreich, wer über Kreativität verfügt, über Talent, Mut, Einzigartigkeit und Hingabe. Den Schauspielern des E.T.A.-Hoffmann-Theaters scheinen die Bedürfnis- und Belohnungsstrukturen des zeitgenössischen Kapitalismus bereits in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.

Am Ende von "Kreise/Visionen" jedenfalls stehen sie in ihren samtenen Smokings auf der Bühne und bieten sich den Zuschauern als Ware feil. Akzeptiert werde sowohl Bar- als auch Kartenzahlung, unter Umständen gewähre man sogar Kredit.

Iris Hochberger, Corinna Pohlmann, Marie-Paulina Schendel, Eric Wehlan, Denis Grafe, Paul Maximilian Gärtner, Paul Maximilian Pira und Florian Walter: Auf der Theaterbühne standen bei "Kreise/Visionen" lauter Ich-AGs. Denn das Theater und seine Schauspieler sind der sozialen Wirklichkeit, die sie auf der Bühne beschreiben, nicht enthoben. In Wahrheit ist der Schauspieler, wie der Dramaturg Bernd Stegemann in seinem Buch "Kritik des Theaters" schreibt, das "Vorbild eines opferbereiten unternehmerischen Selbst, das zum Maßstab für alle Marktteilnehmer (...) wird."

Ein sterbendes Baby

Das Bild der sich und ihre Kunst verkaufenden Schauspieler beschließt einen zweieinhalbstündigen Parforceritt durch 700 Jahre Gesellschaftsgeschichte.

In seinem Stück "Kreise/Visionen" erkundet der französische Dramatiker Joël Pommerat das delikate Verhältnis von Freiheit und Zwang. Die acht von Regisseur Frank Behnke und Dramaturg Olivier Garofalo inszenierten Episoden entziehen sich einer zeitlichen und inhaltlichen Chronologie. Untergründig miteinander verbunden sind sie durch wiederkehrende Figuren und Motive: das Geschrei eines sterbenden Babys zum Beispiel oder ein an der Gottlosigkeit seiner Zeit verzweifelnder Ritter (Eric Wehlan).

Dass den Schauspielern als Bühne eine in sich bewegliche Scheibe dient, hat symbolische Bedeutung. Die Geschichte kennt in "Kreise/Visionen" keinen Anfang und kein Ziel. Die Verhältnisse mögen sich häuten, und offenbaren sich doch nur als Variation des Immergleichen. Die Befreiung von Zwängen ist in "Kreise/Visionen" nur um den Preis neuer Zwänge zu haben. Die Menschheit dreht sich auf der Bamberger Theaterbühne im Kreis.

In einer besonders bedrückenden Episode macht ein junger Aufsteiger (Paul Maximilian Pira) die Bekanntschaft zweier obdachloser Frauen (Iris Hochberger, Marie-Paulina Schendel). Ähnlich den Hexen in Shakespeares "Macbeth" führen sie ihn in Versuchung. Sie stellen ihm einen sagenhaften Aufstieg auf der Karriereleiter in Aussicht - sollte er sie küssen und mit ihnen schlafen.

Der Aufsteiger ringt mit widerstrebenden Empfindungen - zu sehr stoßen die schmutzigen Frauen ihn ab - und macht es am Ende doch.

Behnke führt den jungen Aufsteiger als Idealbild eines Karrieristen vor, der im Wortsinne über Leichen geht. Weniger, weil er es mit jeder Faser seines Körpers möchte. Sondern weil die offensive Missachtung einer sich bietenden Chance allem widersprechen würde, was ihm eingebläut und zur zweiten Natur geworden ist. Selbst seine Frau (Corinna Pohlmann) interpretiert den außerehelichen Beischlaf nicht als Untreue, sondern als Investition in die Karriere.

So ertränkt "Kreise/Visionen" in den Worten von Karl Marx selbst Liebe, Treue und Solidarität im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung. "Dieser Geruch geht nie mehr weg": Im Wehgeschrei des vor sich selbst ekelnden Aufsteigers finden Behnke und Garofalo ein zwingendes Bild für den sich selbst entfremdeten Menschen.

Die existenzielle Ausgezehrtheit der Figuren setzt "Kreise/Visionen" zweieinhalb Stunden lang unter eine überreizte Dauerspannung. Es wird viel gelitten und geschrien auf der Bamberger Bühne. Wenn gelacht wird, dann zu schrill und verzweifelt, zu selbstgerecht und gekünstelt. Die Zwänge des unterbrochenen Konkurrierens, Werbens und Selbstoptimierens korrumpieren in "Kreise/Visionen" noch jeden menschlichen Ausdruck.

Es gibt kein Entrinnen

Die im Titel versprochenen "Visionen" bleibt das Stück schuldig. Der Fluchtpunkt eines anderen, eines gelingenden Lebens fehlt.

"Kreise/Visionen" befriedigt auf unterhaltsame Weise das diffuse, vielleicht auch nur neumodische Unbehagen an der kapitalistischen Ordnung. Aber noch die Kritik am Kapitalismus gehorcht dessen Gesetzen. Ihnen beugten sich am Ende von "Kreise/Visionen" auch die Schauspieler in ihren samtenen Smokings. Es gibt kein Entrinnen. Überall nur Kreise. Und nirgendwo Visionen.