Kentler-Missbrauchskandal - Netzwerk größer als gedacht
Autor: dpa
, Freitag, 23. Februar 2024
Helmut Kentler vermittelte ab den 1960er Jahren gezielt Kinder an zum Teil vorbestrafte Pädokriminelle. Ein neuer Bericht zeigt, dass das Netzwerk des Pädagogen weit über Berlin hinausging.
Jahrzehntelang wurden Minderjährige aus der Kinder- und Jugendhilfe gezielt an vorbestrafte Pädokriminelle vermittelt - und das mithilfe eines deutschlandweiten Netzwerkes. Ein neuer Forschungsbericht der Universität Hildesheim zeigt auf erschreckende Weise, wie viel größer als bislang angenommen das Missbrauchsnetzwerk um den Sozialpädagogen Helmut Kentler war.
Noch über die Jahrtausendwende hinaus wirkte das Netzwerk, das pädophile Positionen und sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen nicht nur duldete, unterstützte und legitimierte, sondern auch selbst Gewalt ausübte, wie der in Berlin vorgestellte Bericht zeigt.
«Der bisherige Fokus auf die Person Helmut Kentler, auf die Pflegekinderhilfe, auf Berlin und auf die Zeit der 1960er Jahre und 1970er Jahre ist zu eng», sagte Carolin Oppermann aus dem Wissenschaftsteam der Universität Hildesheim bei der Vorstellung des Berichts. Das mittlerweile zweite Forschungsprojekt der Uni habe gezeigt, dass zu dem sich «stützenden und schützenden» Netzwerk nicht nur die Berliner Kinder- und Jugendhilfe gehörte, sondern auch Beteiligte aus Hochschulen, Forschungsinstituten, Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen sowie der evangelischen Kirche.
Pädokriminelle erhielten Pflegegeld
Kentler, der 2008 verstarb, war in den 1960er und 1970er Jahren Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin und anschließend Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover. Kentler glaubte, dass sich pädophile Männer als Pflegeväter besser um ihre Schützlinge kümmern würden als andere Pflegeeltern. Er bezeichnete die Praxis als «wissenschaftliches Experiment».
Dass die Männer dafür Sex wollen könnten, war für den seinerzeit weithin anerkannten Psychologen und Sexualforscher kein Hinderungsgrund. Die Pädokriminellen erhielten sogar Pflegegeld. Kentler wurde später nicht strafrechtlich verfolgt, weil seine Taten verjährt waren.
Als zentrale Knotenpunkte für den strukturellen Machtmissbrauch nennt der Bericht neben Berlin auch Göttingen, Hannover, Lüneburg, Tübingen und Heppenheim. Die Akteure hätten entweder sexualisierte Gewalt ausgeübt, aktiv ermöglicht oder wissentlich geduldet. Die Täter, die sexualisierte Gewalt ausübten, waren dem Bericht zufolge fast ausschließlich männlich, die hochrenommierte wissenschaftliche oder pädagogische Positionen innehatten. Einige von ihnen waren am Pädagogischen Seminar Göttingen und im niedersächsischen Landesjugendheim tätig. Göttingen war den Forschern zufolge eine Art «Ursprungsknotenpunkt», an dem die Beteiligten ihre «vermeintlich 'reformorientierten Ideen'» entwickelten.
Leid der Betroffenen ist groß
Der Bericht basiert auf der Basis von Gesprächen mit Betroffenen, Zeitzeugeninterviews, Dokumenten und Aktenanalyse. Es ist das zweite Aufarbeitungsprojekt der Universität Hildesheim. Der erste Bericht wurde im Jahr 2020 veröffentlicht. Insgesamt hat das Land Berlin durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie damit drei Projekte zu dem Missbrauchsskandal in Auftrag gegeben.