Ohne Wagenknecht, mit Rackete: Linke versucht den Neustart
Autor: Verena Schmitt-Roschmann und Ulf Vogler, dpa
, Sonntag, 19. November 2023
Drei Tage beriet sich die von Krisen und Streit gebeutelte Partei in Augsburg. Zum Abschluss des Parteitags geht es noch einmal um die Vorbereitungen zur Europawahl 2024.
Linken-Chef Martin Schirdewan gab sich sehr zufrieden am Sonntagmorgen: Programm zur Europawahl verabschiedet, Kandidatenteam aufgestellt, Kampagne zur Erneuerung der Partei gestartet - und fast niemand, der beim Parteitag der Linken in Augsburg noch den Namen Sahra Wagenknecht erwähnt hätte. «Das interessiert hier einfach niemanden mehr», sagte Schirdewan. Dann eilte der 48-Jährige durch die Messehalle zur nächsten Live-Schalte.
Knapp vier Wochen nach dem Bruch mit ihrer früheren Ikone Wagenknecht und kurz nach dem Beschluss zur Auflösung ihrer Bundestagsfraktion hat die Linke also ein Lebenszeichen von der Intensivstation gefunkt. Schirdewan gab sich im Phoenix-Interview sogar sicher: «Wir werden gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen.»
Die mehr als 400 Delegierten wollten das nur zu gerne glauben. Sie jubelten ihren Europa-Kandidaten zu, darunter neben Schirdewan selbst die ehemalige Seenotretterin Carola Rackete und der Mainzer Arzt Gerhard Trabert. Die Genossinnen und Genossen bestätigten sich gegenseitig, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sei und die Linke mehr gebraucht werde denn je.
Ob und wie sich die Partei tatsächlich berappelt, ist jedoch ungewiss. Der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder ließ sich von der Augsburger Aufbruchstimmung nicht beeindrucken. «Die Partei trudelt ihrem Ende entgegen, sie wird bald Geschichte sein», prophezeite Schroeder im Deutschlandfunk.
Was für ein Comeback der Linken spricht
Die Parteispitze wirbt gezielt um junge Linke in der Klimabewegung oder der Flüchtlingshilfe und um Menschen, die von SPD und Grünen enttäuscht sind. Dafür sehen die Vorsitzenden Schirdewan und Janine Wissler nach der Abspaltung von Wagenknecht nun freie Bahn. Eine Rolle spielt dabei: Bei der Europawahl im Juni 2024 gilt erstmals das Wahlalter 16.
Die ehemalige Seenotretterin Rackete sagte am Rande des Parteitags, das Konzept könne aufgehen, sie spüre bereits viel Interesse in den Bewegungen. Die 35-Jährige, die mit Schirdewan im Spitzenduo zur Europawahl antritt, ist selbst Symbolfigur dieses Plans: Sie ist nicht Mitglied der Linken, die Kapitänin und Ökologin steht für Klima- und Flüchtlingsaktivismus, und wird in der Partei bewundert als authentische Person jenseits des Politikbetriebs.
Vielleicht noch mehr Euphorie stiftete in Augsburg der 67-jährige Trabert, ebenfalls parteilos, der «Arzt der Armen», der schon für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Mit einer umjubelten Rede gegen Stigmatisierung angeblich «sozial Schwacher» schaffte der Trabert bei der Wahl zum Europa-Listenplatz vier das beste Ergebnis des Parteitags. Die Linke stellte insgesamt 20 Kandidatinnen und Kandidaten auf, obwohl 2019 bei einem Stimmanteil von 5,5 Prozent nur fünf Mandate drin waren.