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"Erst einmal fünf Euro Mindestlohn"


Autor: Natalie Schalk

, Donnerstag, 13. Januar 2011

Soziale Gerechtigkeit, Schwarzarbeit, Konkurrenz aus Billiglohnländern: Die Einführung eines Mindestlohns kann viele Folgen haben. Sozialgesetze sind das Fachgebiet von Ulrich-Arthur Birk. Dem Mindestlohn steht der Bamberger Professor skeptisch gegenüber.
Ulrich-Arthur Birk Foto: Barbara Herbst


Etwa 1,4 Millionen Menschen sind auf Hartz-IV angewiesen, obwohl sie arbeiten. Inwiefern ist das ein Argument für den Mindestlohn?
Ulrich-Arthur Birk: Ein Argument für den Mindestlohn können nur diejenigen sein, die Vollzeit arbeiten, Singles sind und netto weniger als das Existenzminimum haben. Das betrifft etwa 600000 Menschen; die meisten davon im Osten. Setzt man das Existenzminimum mit Hartz-IV gleich, würden bei einem Single fünf Euro Mindestlohn reichen. Aber damit ein Vier-Personen-Haushalt mit einem Verdiener auf das Niveau von Hartz-IV kommt, bräuchten wir einen Mindestlohn von rund zehn Euro - und noch mehr, wenn jemand, der arbeitet, mehr haben soll als Hartz-IV. Das ließe sich auf dem Arbeitsmarkt nicht durchsetzen.
Wie würde sich ein Mindestlohn auf den Arbeitsmarkt auswirken?
Das dürfte von der Höhe des Mindestlohns abhängen. Es gibt einen Marktlohn, zu dem die Arbeitskraft am Markt abgenommen wird. Wir haben etwa fünf Millionen Menschen in Deutschland, die unter 7,50 Euro verdienen. Klar, dass nicht alle arbeitslos würden, wenn es einen Mindestlohn gäbe. Genauso klar ist aber, dass nicht alle weiterbeschäftigt würden. Unklar ist der Umfang. Je höher der festgelegte Mindestlohn über dem Marktlohn liegt, desto wahrscheinlicher reagieren Firmen mit Entlassungen.
Die Erfahrungen anderer Länder sind aber doch gar nicht so schlecht?
In Amerika hatte der Mindestlohn keine negativen Folgen. Er liegt umgerechnet bei etwa fünf Euro und betrifft ein oder zwei Prozent der Arbeitnehmer. In Deutschland wären es 15 Prozent, wenn der Mindestlohn bei 8,50 Euro liegen soll, wie der DGB fordert. Aus Großbritannien und Frankreich gibt es keinen eindeutigen Beleg, dass der Mindestlohn Arbeitslosigkeit produziert hat. Allerdings wird die Jugendarbeitslosigkeit oft darauf zurückgeführt. Ich denke, dass bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern aus dem Mindestlohn herausgenommen werden müssten. Oder dass die Arbeitgeber Zuschüsse bekommen, wenn sie solche Leute beschäftigen.
Welche Gruppen meinen Sie?
Jugendliche ohne Berufsabschluss. Leistungsgeminderte Leute: Jemand ist allein stehend, nicht sesshaft, seit Jahren arbeitslos. Wer soll den einstellen? Die Arbeitgeber sind so sozial auch nicht, die wollen ja nicht draufzahlen. Bei stark leistungsgeminderten Arbeitnehmern liegt der Marktlohn weit unter dem, was als Mindestlohn gefordert wird.
Aber oft liegt der Lohn auch unter dem Marktwert. Wenn eine Frisörin in Thüringen 3,18 Euro in der Stunde verdient, kann man doch davon ausgehen, dass die Produktivität ihrer Arbeitskraft höher ist? Ähnliches dürfte für Pflegekräfte gelten: Ein Pflegedienst kann seine Mitarbeiter nicht entlassen, weil er einen Mindestlohn zahlen muss.
Eine Firma, die zehn Arbeitnehmer hat, wird nicht alle entlassen, wenn ein Mindestlohn eingeführt wird. Sie entlässt vielleicht zwei. Und die anderen müssen entsprechend mehr arbeiten. Ich denke, es gäbe unterschiedliche Strategien: Das produzierende Gewerbe würde mehr Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Dienstleister wie der Pflegebereich oder das Frisörhandwerk können das nicht. Wobei Frisöre auch noch das Trinkgeld haben - dadurch ist der Lohn schwer darstellbar. Frisöre kämpfen weniger gegen andere Betriebe. Sie kämpfen gegen Schwarzarbeit. Das ist im Pflegebereich nicht viel anders, da arbeiten viele Frauen aus dem Ostblock. Oft halb legal, halb illegal.
Wenn Deutschland am 1. Mai seinen Arbeitsmarkt öffnet, würde ein Mindestlohn verhindern, dass Beschäftigte durch Billiglöhner aus Osteuropa ersetzt werden.
Ja, das stimmt. Aber die Europäische Gemeinschaft sollte dazu führen, dass es eine Freizügigkeit der Waren, Dienstleistungen, des Kapitals und auch Arbeitnehmer gibt. Ein Mindestlohn bei einer Entsendung ins Ausland ist nichts anderes als ein Zoll auf die Arbeitskraft. So war die Eurozone nicht gedacht.
Wie lässt sich das Dilemma lösen?
Ich denke, ein gemäßigter Mindestlohn ist gerechtfertigt. Schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit. Eine rein ökonomische Betrachtung greift zu kurz, aber man kann den ökonomischen Aspekt nicht ganz ausklammern. Es wäre sinnvoll, erst einmal fünf Euro Mindestlohn einzuführen und jährlich zu erhöhen. Um eine Politisierung zu vermeiden, sollte das nicht vom Parlament gesteuert werden, sondern in die Hände einer Kommission gelegt werden. Sie beobachtet, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt, um negative Auswirkungen zu vermeiden. Der Mindestlohn sollte branchenübergreifend eingeführt werden, aber differenziert zwischen den Bundesländern. Das unterschiedliche Bruttoinlandsprodukt der Länder macht einen einheitlichen Mindestlohn nicht möglich.
Dadurch würde aber die Einkommens-Schere zwischen Ost und West weiter auseinandergehen.
Ja. Wenn Sie einen Acker haben, der 100 Tonnen Kartoffeln bringt und einen anderen, der 70 bringt, steht bei letzterem zur Verteilung auch weniger zur Verfügung. Im Bundesschnitt liegt die Wertschöpfung pro Einwohner bei 29000 Euro. In Bayern sind es 34000, in Thüringen nur 22000.
Sehen Sie eine Alternative zum Mindestlohn?
Ein steuer- und sozialversicherungsfreies Mindesteinkommen. Das Verfassungsgericht hat bereits bestimmt, dass das Existenzminimum steuerfrei sein muss, denn es ergibt keinen Sinn, wenn einer erst Steuern zahlt und dann auf Hartz IV angewiesen ist. Der Grundfreibetrag liegt bei 666,67 Euro im Monat. Davon gehen die Sozialversicherungen ab; es bleiben 530 Euro. Das Existenzminimum sollte auch von den Sozialabgaben befreit werden. Brutto für netto. Das wäre außerdem ein Beitrag zur Bekämpfung von Schwarzarbeit.