Druckartikel: "Engel in Amerika": Vier Stunden schwule Fantasie über nationale Themen"

"Engel in Amerika": Vier Stunden schwule Fantasie über nationale Themen"


Autor: Rudolf Görtler

Bamberg, Samstag, 07. Oktober 2017

Tony Kushners Monumentaldrama "Engel in Amerika" zeichnet ein Panorama der Reagan-Ära.
Der verzweifelte Prior (Paul Maximilian Pira) und seine Vision, der Engel (Corinna Pohlmann)  Foto: Martin Kaufhold


Ja, wir sind in Amerika. Das macht uns bereits der erste Takt von "Star Spangled Banner" in der Version Jimi Hendrix' klar. An der Wand hängen US-Ikonen wie Mickymaus und der Marlboro-Mann. Und kommt uns die Diagnose des dominierenden amerikanischen Sozialcharakters als "selbstsüchtig, lieblos, blind" nicht bekannt vor?

Nein, wir sind nicht in Donald Trumps USA von 2017. An der Wand prangen ja auch Fotos von Ronald Reagan und Ed Koch, dem New Yorker Bürgermeister 1978 bis 1989. "Engel in Amerika" spielt im Big Apple des Jahres 1985, als der Neoliberalismus Reagan'scher und Thatcher'scher Prägung in der westlichen Welt so richtig hochkochte und nicht wenig zur Implosion der östlichen einige Jahre später beitrug. Dies ist die Folie, vor der Tony Kushners "schwule Fantasie über nationale Themen" zu lesen ist, als die der Autor sein Stück bezeichnet hat. Sibylle Broll-Pape inszeniert den fast vierstündigen Brocken (Dramaturgie Remsi Al Khalisi) zur Saisoneröffnung, so wie sie die beiden vergangenen Spielzeiten des E.T.A.-Hoffmann-Theaters mit Hebbels nicht minder monumentalen "Nibelungen" und dem anspruchsvollen "Goldenen Vlies" Grillparzers eröffnet hatte.

Die "schwule Fantasie" ist von Aids geprägt. Mitte der achtziger Jahre forderte die Immunschwächekrankheit vor allem unter Homosexuellen immens viele Opfer. Erkrankte wurden diskriminiert; Therapien gab es kaum. Kushner führt mehrere Handlungsstränge parallel: Da ist das schwule Paar Louis (Marcel Zuschlag) und Prior (Paul Maximilian Pira).

Louis trennt sich vom aidskranken Freund, weil er dessen Leiden nicht erträgt. Da ist der latent homosexuelle und strenggläubige Mormone Joseph (Stefan Hartmann), dessen Ehe mit der valiumsüchtigen Harper (Anna Döing) gescheitert ist. Und da ist der finstere Anwalt Roy Marcus Cohn (Stephan Ullrich). Eine historische Figur, stockkonservativ und antikommunistisch, die schon in der McCarthy-Ära etwa beim Todesurteil gegen Ethel Rosenberg eine üble Rolle spielte und auch den jungen Donald Trump beriet. Cohn leugnet seine Homosexualität und auch seine Aids-Erkrankung, weil sich so etwas für einen stramm rechten Machtmenschen nicht gehört.


Fieberträume und Halluzinationen

Eine recht simple Handlung, Schnitte wie im Film; die jeweils nicht agierenden Protagonisten verharren am Bühnenrand (Ausstattung Trixy Royeck) im Zwielicht. Doch Kushner hat in sein großstädtisches 80er-Jahre-Panorama noch surreale Elemente en masse hineingepackt. Der titelgebende Engel schwebt herab - wie überhaupt die Regisseurin an Effekten und Bühnenmaschinerie nicht gespart hat -, der Geist Ethel Rosenbergs (Katharina Brenner) sucht den dahinsiechenden Cohn heim, Halluzinationen und Fieberträume wabern, in einer Schluss-Apotheose redet Prior wie Jean Pauls toter Christus vom Weltgebäude herab.

Ein opulenter Theaterabend also, in jeder Beziehung. Der dennoch nicht so recht befriedigt. Das liegt einmal am Stück. Die Zeiten der Aids-Hysterie liegen gut 30 Jahre zurück. Man hat mit der Krankheit umzugehen gelernt. Dann hat Kushner viel, allzu viel in sein Drama gezwängt. Die spezifisch US-amerikanische religiös geprägte Doppelmoral, überhaupt die Religion mit einem Engel als "Boten", der mitunter unfreiwillig komisch zur Umkehr aufruft, Krankheit in einer Klassengesellschaft, jüdischer Selbsthass, latenter und offener Rassismus, Ozonloch und Umweltsauereien als Surplus: Es überwältigt einen bis zur Betäubung.

Die Inszenierung versucht dem überbordenden Inhalt in allen Facetten gerecht zu werden samt stilisiertem Central Park mit seiner Cruising Area, Disco-Musik und Lou Reeds Schwulenhymne "Take A Walk On The Wild Side" und kommt doch über ein recht konventionelles Bild der Reagan-Jahre nicht hinaus. Der nach der Premieren-Pause geknickte Flügel des Engels symbolisierte die Crux recht genau. Vielleicht wäre weniger Halluzination und Religion und mehr Trump handfester gewesen.


Dämonischer Schmierlappen

"Engel in Amerika" ist und bleibt jedoch ein Schauspieler-Stück sui generis. Das Bamberger Ensemble meisterte die Herausforderungen der knapp vier Stunden und Mehrfachbesetzungen elegant. Allen voran Stephan Ullrich als der dämonische Schmierlappen Roy Cohn. Bösewichte faszinieren immer am meisten, und wie Ullrich den Weg vom zynischen Reaganisten ("Willst du nett sein oder etwas erreichen?") zum röchelnden Moribunden zeichnete, verdient nur ein Wort: meisterhaft. Aber auch die junge Anna Döing als Harper spielte makellos, so wie den beiden Ensemble-Neulingen Marcel Zuschlag und Paul Maximilian Pira ihr Bamberg-Debüt bestens gelang. Der Gast Patrick Joseph gab den gewitzten Krankenpfleger Belize mit dem großen Herzen liebenswürdig; er hat das Zeug zum Publikumsliebling.

Eine zwiespältige Sache also. Zwiespältig auch deswegen, weil der stellenweise durchschimmernde Witz der Dialoge von pompösem Pathos an anderer Stelle erschlagen wurde. Ach ja, die Sprache. Explizites Sprechen über Sexualität muss man schon ertragen (können). Vielleicht deswegen war der Applaus zwar freundlich, aber nicht überwältigend.