Ekstatischer Tanz auf dem Vulkan
Autor: Stefan Fößel
Wunsiedel, Sonntag, 05. Juli 2015
Das Musical Cabaret hat reichlich Futter für Auge und Hirn zu bieten, zaubert das verblühende Berlin der Goldenen Zwanziger auf die Felsenbühne. Nicht nur die Temperaturen sorgen für einen der wohl heißesten Wunsiedler Festspielabende aller Zeiten.
Mit Cabaret hält einer der weltweit größten Musical-Erfolge auf der Luisenburg Einzug und bietet in der Inszenierung von Robin Telfer ein fast zweieinhalbstündiges Spektakel, das vor dem Hintergrund schwerer Zeiten durch seine Leichtigkeit besticht.
Dass die Natürbühne unerhört wandelbar ist, hat sie immer wieder bewiesen, auch die Transformation ins Berlin der Zwischenkriegszeit gelingt erstaunlich gut. Das liegt im Bühnenbild von Siegfried Mayer sicher auch darin begründet, dass sie ihren natürlichen Charakter behalten darf, um zugleich durch eine expressionistische Häuserschlucht, einen hollywoodgleichen "Cabaret"-Schriftzug und massenweise Lampen und Tischtelefone, die wie Pilze aus den Felsen sprießen, das Milieu zwischen Mietskaserne und Variete abzubilden.
Aber was heißt hier Variete? Es geht hier immerhin um den Kit-Kat Club, den heißesten Laden der Stadt, dessen hocherotische Darbietungen und
Im Bann der Sally Bowles
Die zum Teil recht luftigen Kostüme kommen freilich den Kit-Kat-Girls und -Boys sehr entgegen, die tanzen, als ob es kein morgen gäbe (Choregraphie: Cedric Lee Bradley). Selbst auf der für ihre kühlen Nächte bekannten Luisenburg hat es zu diesem Zeitpunkt noch an die 30 Grad oder wie es Intendant Michael Lerchenberg vor dem Stück formuliert: "Wer heute eine Decke dabei hat, ist selber schuld."
Den Ein- und Ausgang zur frivolen Glitzerwelt bildet ein Reichsbahn-Waggon, der nicht nur die Musiker der bewährten Blues Brothers Band beherbergt, sondern auch den amerikanischen Schriftsteller Cliff Bradshaw (Lukas Schrenk) im brodelnden Berlin ausspuckt, wo er nach einer sehr deutschen Passkontrolle auch schnell im Nachtleben landet und sich gleich an seinem ersten Abend in die unwiderstehliche Sängerin Sally Bowles. Auch hier hat die Luisenburg mit Anna Montanaro einen großen Fang gemacht, sie gehört zu den drei Deutschen neben Hildegard Knef und Ute Lemper, die am Broadway Hauptrollen spielen durfte. Und auch die Felsenbühne gehört ihr vom ersten Takt an, das Publikum feiert immer wieder ihre Stimme und ihr Charisma. Cliff und Sally werden ein Paar. Doch steht die Beziehung auf so wackligen Füßen wie die ganze Zeit.
Die Nazis gewinnen stetig an Präsenz, das wird in der Person des Ernst Ludwig (Matthias Lehmann) deutlich, der sein Hakenkreuz-Abzeichen zunächst verdeckt, dann offen trägt. Er ist es auch, der die Verlobung der Pensionswirtin Schneider mit dem jüdischen Obsthändler Schulz sprengt. Die bekannten Film- und Fernsehgesichter April Hailer und Norbert Heckner bilden ein hinreißendes Pärchen, das sich zaghaft (und mit vielen fruchtigen Geschenken) an ein spätes gemeinsames Glück heranwagt, es zunächst greift und dann doch wieder verliert. Denn Fräulein Schneider hat Angst um ihre Existenz, schreckt angesichts der politischen Entwicklungen vor der Ehe mit einem Juden zurück, und fragt ins Publikum: "Was hätten Sie gemacht?"
Kein Happy Ending
Immer deutlicher wird, dass der Vulkan bald explodieren wird, auf dem die ganze Stadt tanzt. Selbst der um keinen kessen Spruch verlegene Conferencier kann da nur noch irritiert fragen: "Warum kann die Welt nicht leben und leben lassen?"
Der braune Geist vertreibt auch den Amerikaner Bradshaw: "Berlin ist vorbei und kotzt auf die Straße." Doch Sally mag das noch nicht so sehen und auch diese Beziehung zerbricht. Sie tanzt und strahlt und verkauft sich lieber weiterhin im Kit-Kat-Club, solange es den noch gibt. Doch dass auch dessen Tage gezählt sind, zeigt die erschütternde Schlussszene, wenn der Conferencier unterm Mantel ein KZ-Hemd entblößt.
Cabaret bietet auf der Luisenburg eine furios erzählte Geschichte ohne Happy Ending. Das Stück bietet berühmte Songs wie "Willkommen, bienvenue, welcome" oder "Money (makes the world go round)", es lässt eine zerbrechliche Welt ohne Grenzen erstehen, erläutert zugleich die Zusammenhänge von politischem Desinteresse ("Wer nicht gegen sie ist, ist für sie"), Zukunftsängsten und moralischer Instabilität, die das Dritte Reich auch möglich gemacht haben. Große Unterhaltung, die Futter für Auge und Hirn bietet.