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Ein Oratorienabend mit elementaren Fragen


Autor: Monika Beer

Nürnberg, Dienstag, 25. Februar 2014

Wann sind Gewalt und Krieg gerechtfertigt? Ein ungewöhnliches Musiktheaterprojekt am Staatstheater Nürnberg mit Oratorien von Georg Friedrich Händel und Lior Navok macht klar, dass es auf die Frage keine einfachen Antworten gibt.
Szene aus dem Oratorium "And the Trains Kept Coming..." mit Gesangssolisten, Choristen, Musikern und Schauspielern des Staatstheaters Nürnberg Fotos: Ludwig Olah


Für Operngänger sind Krieg, Mord und Totschlag nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil: Viele Werke spielen in Kriegszeiten, blutige Rachefeldzüge und Machtkämpfe sind an der Tagesordnung, zumeist verbrämt mit einer zu Herzen gehenden Liebesgeschichte. Was aber, wenn man nichts mehr sublimieren kann, wenn es nur noch um den Tod beziehungsweise das nackte (Über-)Leben geht? Was, wenn man weiß, dass das Schreckliche, das auf der Bühne verhandelt wird, konkret passiert ist, millionenfach, noch dazu bei uns?

Der dreistündige, außergewöhnliche Musiktheaterabend, den Regisseur Stefan Otteni und sein Team, der Dirigent Peter Tilling sowie alle Mitwirkenden am 23.

Februar im Opernhaus Nürnberg erstmals vorgestellt haben, ist inhaltlich tonnenschwer, aber überzeugend und nachhaltig. Das Programm verzahnt das auf ein Viertel verkürzte Oratorium "Judas Maccabäus" von Georg Friedrich Händel mit einigen weiteren barocken Stücken und der szenischen Erstaufführung von "And the Trains Kept Coming..." des israelischen Komponisten Lior Navok.

Warum wurde Ausschwitz nicht bombardiert?
Das letztere, 2008 uraufgeführte Oratorium thematisiert den Holocaust, spiegelt in persönlichen und dokumentarischen Berichten nicht nur den Massenmord an den europäischen Juden, sondern auch die vergeblichen Bemühungen jüdischer Organisationen, andere Länder zu Hilfs- und Rettungsmaßnahmen zu bewegen und wenigstens die Gleise zu den Todesfabriken zu bombardieren. Das meiste Material, das der Komponist für das Libretto des Bostoner Auftragswerks benutzte, stammt direkt aus der Gedenkstätte Yad Vashem.

Auch Händels Oratorium handelt vom Schicksal des jüdischen Volkes, das allerdings weniger in der Opferrolle gezeigt wird, sondern sich gegen seine Unterdrücker wehrt. Händels Zeitgenossen verstanden diese biblische Geschichte als Allegorie auf die politischen Verhältnisse in Großbritannien, in Deutschland ging die Identifikation noch viel weiter: Nach 1933 galt das Stück als Feier nationaler Überlegenheit und des Heldentods, wurde gleichzeitig aber aus entgegengesetzten Gründen in den jüdischen Kulturbünden gespielt.

Sprachlich gesäuberte Freiheitsgesänge
Hier setzt die Inszenierung an, die die klug und kenntnisreich zusammengesetzte Collage aus Oratorienmusik und Sprechtexten (Dramaturgie: Kai Weßler) mit einer Chorprobe im deutschen Kriegsjahr 1944 beginnen lässt (Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albartus), bei der - darstellerisch subtil ausgeführt - nicht alle freudig in die sprachlich gesäuberten Freiheitsgesänge einstimmen. Auf elf deutschsprachige Händel-Nummern folgt Lior Navoks englischsprachiges Oratorium.

Die von einem Steg dominierte Bühne, auf der auch die Orchestermusiker agieren, ist jetzt übersät von Dokumenten, die das Nachkriegsdeutschland mit der beispiellosen Vernichtung der jüdischen Mitbürger konfrontieren. Übertitel helfen beim Verständnis der Gesangstexte, die Schauspieler Gesa Badenhorst, Gina Henkel, Thomas Nummer und Stefan Willi Wang erwecken die reinen Sprechtexte zu differenziertem Bühnenleben. Was in der Gleichzeitigkeit von Musik, Gesang und Sprache untergeht, ist nicht viel - und kann in Gänze im Programmheft nachgelesen werden.

Widersprüchliches bei der Gedenkfeier
Nach der Pause geht es optisch und inhaltlich in die Gegenwart, in eine Holocaust-Gedenkveranstaltung, deren Redner für ganz unterschiedliche Positionen stehen - konkret, historisch und aktuell, darunter Barack Obamas Friedensnobelpreisrede, ein Interview mit Benjamin Netanjahu über dessen im Krieg gefallenen Bruder und ein flammender Syrien-Hilfsappell vom Juni 2013. Dazu gibt es weitere, jetzt sinnigerweise in der englischen Originalsprache gesungene Nummern aus "Judas Maccabäus" sowie aus Werken der Barockkomponisten Johann Philipp Kirnberger und Georg Philipp Telemann.

Das musikalische Niveau ist vorzüglich. Peter Tilling, seit Saisonbeginn 1. Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor in Nürnberg, ist sowohl in der historischen Aufführungspraxis als auch in der zeitgenössischen Musik firm, leitet mit Übersicht und Verve die Instrumentalisten zu federndem Barockklang und aufwühlenden Geräuscheruptionen an. Superb der von Tarmo Vaask einstudierte Chor, herausragend die Gesangssolisten Leila Pfister, Claudia Braun, Mark Adler, Martin Berner und Taehyun Jun, berührend die Kindersolisten.

Je länger man Musik und Szene, die gesungenen und gesprochenen Texte in sich aufnimmt, desto mehr begreift man, dass es auf die Frage, ob Gewalt und Krieg gerecht sein können, keine einfachen Antworten gibt, geben kann. Sämtliche Mitwirkende bringen genau das so überzeugend über die hier vieldeutige Rampe, dass das Nachdenken darüber nach dem unmittelbaren Erlebnis im Opernhaus, das bekanntlich in Sichtweite der von Dani Karavan geschaffenen Straße der Menschenrechte liegt, noch lange nicht aufhört. Demonstrativ großer Beifall nach der Premiere.