Dramatische Corona-Folgen bei Jugendlichen: Expertin sieht "gewaltiges Zukunftsproblem"
Autor: Agentur dpa, Redaktion
Deutschland, Sonntag, 02. März 2025
Die Corona-Maßnahmen haben bei Kindern und Jugendlichen extreme Spuren hinterlassen, warnt eine Expertin. Die psychischen Folgen seien erschreckend.
Innerhalb weniger Wochen verliert Anna etwa zehn Kilogramm, sie friert ununterbrochen, leidet unter Haarausfall und ihre Füße kribbeln. "Sie war immer schon schlank, ist dann aber wirklich sehr dünn geworden, hat kaum noch gegessen", berichtet die Mutter über ihre damals 17-jährige Tochter. "Es ging ihr schlecht. Sie wusste, es stimmt etwas nicht, sie brauchte Hilfe."
Dann ging es glücklicherweise schnell: Eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rheinland diagnostizierte Magersucht. Einige Wochen später wurde Anna stationär aufgenommen. Fünf Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown im März 2020 haben die Einschränkungen noch immer bei vielen Kindern und Jugendlichen tiefe Spuren hinterlassen.
Magersucht, Depressionen & Co.: Massive Anstiege bei jungen Menschen nach Corona
Die häufigsten psychischen Erkrankungen sind Essstörungen, Depressionen und Angststörungen, berichtet Christine Freitag vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Auch Entwicklungsstörungen - wie reduzierte Feinmotorik, geringere Sprach- und Konzentrationsfähigkeit, vor allem bei den Jüngeren, die nicht in Kita oder Schule gehen konnten, sind einschneidend. "Das kann man nicht einfach so aufholen. Das ist ein gewaltiges Zukunftsproblem für die gesamte Gesellschaft", warnt die Medizinerin der Uniklinik Frankfurt.
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Unter den Essstörungen kann Magersucht - in der Fachsprache Anorexia nervosa - gefährlich werden und bei extremem Gewichtsverlust tödlich enden. Aktuelle Zahlen zu Neuerkrankungen gibt es nicht, sagt Beate Herpertz-Dahlmann, die seit Jahren zu dem Thema forscht. "Wir wissen aber, dass die stationären Aufnahmen erheblich zugenommen haben." Bei Klinikeinweisungen von jungen Magersüchtigen zwischen 9 und 19 Jahren haben Forschende um die Aachener Medizinerin sehr beunruhigende Erkenntnisse gewonnen - besonders im Hinblick auf Kinder. In der Gruppe von 9 bis 14 Jahren - vor allem bei Mädchen - sind die Einweisungen 2023 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 enorm gestiegen, nämlich um 42 Prozent. Im Dezember 2022 starb ein 16-jähriges Mädchen in Unterfranken an den Folgen von Mangelernährung nach einer Corona-Infektion.
Bei Jugendlichen - 15 bis 19 Jahre - lag die Klinikaufnahme Magersüchtiger 2023 um 25 Prozent höher als 2019, schildert Herpertz-Dahlmann. Basis ihrer Studie waren rund 2,5 Millionen Krankenversicherten-Daten des Verbands der Ersatzkassen (VdEK). Eine Hochrechnung der VdEK für ganz Deutschland zeigt: Aufgrund von Essstörungen, aber auch von Depressionen und Angststörungen, wurden 2023 erheblich mehr junge psychiatrische und psychosomatische Patienten unter 18 Jahren stationär in Kliniken behandelt als 2019. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Anorexia nervosa als eine der gefährlichsten psychischen Erkrankungen für Kinder und Jugendliche ein.
"Unter Einschränkungen besonders gelitten": Psychiaterin erklärt Folgen von Lockdowns
Symptome können sein: niedriger Blutdruck, Bauchbeschwerden, bei Unterernährung dann Mangelerscheinungen, hormonelle Veränderungen, Osteoporose, Haarausfall, mitunter sind weitere Organe einschließlich des Gehirns betroffen. Oft lässt sich ambulant mit Arzt und Psychotherapie gegensteuern, in schweren Fällen ist eine Klinikbehandlung unumgänglich. Warum ist der Anstieg vor allem bei Kindern so stark? "Es scheint so zu sein, dass Kinder unter den Einschränkungen besonders gelitten haben. Sie waren in der Pandemie noch stärker isoliert als die Jugendlichen", sagt Herpertz-Dahlmann.
Der Verzicht auf Verein, sportliche Aktivitäten, Lebensort Schule und Miteinander sei für sie vergleichsweise schlimmer gewesen. Auch die Belastung und Probleme der Eltern zu Hause hätten Jüngere stärker wahrgenommen als die unabhängigeren Teenager oder jungen Erwachsenen, was Essstörungen wohl ebenfalls begünstigt habe, sagt die frühere Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Aachen. Und: Der Social-Media-Konsum habe gerade bei Kindern zugenommen - und damit die Begegnung mit bedenklichen Schlankheits- oder Körperform-Idealen und Apps etwa zu Gewichtsabnahme oder exzessivem Bodybuilding. Früherkennung ist entscheidend.