Die Boheme lebt in Nürnberg wieder auf
Autor: Rudolf Görtler
Nürnberg, Sonntag, 19. April 2015
Am Nürnberger Staatstheater wird das "Leben der Boheme" von Murger und Puccini zum opulenten Unterhaltungsstück. Die Musik ist meisterlich, die Aussage geht unter. Resignativer Schluss: Die Kunst verliert doch gegen das Geld.
Was waren das doch für Zeiten, als ein imaginiertes wildes und erotisch freizügiges Künstlerleben dem Bourgeois wohlige Schauer über den Rücken jagte? Als vornehmlich in Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Künstler sich einen Dreck um Geld und bürgerliche Reputation scherten und notfalls um den Preis des eigenen Lebens ihre Vorstellungen von Kunst durchsetzten?
Subkultur als Marketing
Ach, vorbei, vorbei. Der Kapitalismus ist inzwischen flexibel genug, jede subkulturelle Regung sofort ökonomisch aufzusaugen und so unschädlich zu machen, prickelnde erotische Freizügigkeit ist dem Swinger-Club gewichen, wo sich aus dem Ruder gelaufene Kleinbürger austoben, und Künstler wiegen sich recht angenehm in der Hängematte der Subventionskultur.
Das "Leben der Boheme" also nur eine sozialgeschichtliche Reminiszenz? Stefan Otteni und Bettina Ostermeier mochten das nicht so recht glauben und entwickelten fürs Nürnberger Schauspielhaus eine süffige Revue, die zwischen Musical, Tragikomödie und Kunstsatire changiert, insgesamt jedoch vornehmlich unterhalten will. Dabei halten sich Regisseur Otteni und die musikalische Leiterin eng an das Handlungsgerüst der Vorlagen: Henri Murger schrieb seine autobiografisch getönten "Szenen aus dem Leben der Boheme" 1851; Puccinis "La Boheme" entstand 1896.
Ums Drama der unglücklichen Liebe zwischen dem Dichter Rodolphe (Thomas L. Dietz) und der schwindsüchtigen Mimi (Henriette Schmidt) ranken sich dann die Szenen aus dem Boheme-Leben: wie der Hauswirt (mit komischem Talent auch in etlichen anderen Rollen Frank Damerius) die Miete der Künstler-WG von Rodolphe, des Malers Marcel (Philipp Weigand), des Komponisten Alexandre (Martin Bruchmann) und der Philosophin Gustave (Karen Dahmen) vergeblich einzutreiben sucht, wie sie rauschende Feste feiern und Herzensdramen zelebrieren - und am Ende resignieren.
Von der stolzen Verschwendung in Liebe und Kunst, vom antikapitalistischen und antibürgerlichen Habitus ist wenig übrig geblieben, wenn kaum das Geld für die überlebensnotwendige Medizin aufzutreiben ist, wenn der Musiker Werbejingles komponiert und der Maler seine Kunst-Doktrin und die kokette Musetta (großartig Elke Wollmann) sich an den reichen Unternehmer verkauft. Das war im 19. Jahrhundert so und wird auch heute so sein, insinuiert diese "Boheme"-Fassung.
Satire auf den Kunstbetrieb
Jedoch kommt es ihr auf tiefgründiges Philosophieren trotz mancher Überlegungen Gustaves über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft nicht in erster Linie an. Zwar mangelt es nicht an mehr oder minder gelungenen satirischen Verweisen auf den zeitgenössischen Kunstbetrieb, auch in seiner regionalen Variante. Da erwähnt einer die Kunstprofessorin Eva von Platen, die Strichmännchen Keith Harings tauchen ebenso auf wie Body und Action Painting. Und ein Käufer hält, ein allzu billiger Scherz, den Gerätewagen des Malers für eine Installation.
Doch es dominiert doch das Spektakel, Entertainment, wenn Schauspieler durchs Publikum toben und für ein Künstlerfest sammeln, wenn Elke Wollmann Chansons singt, die Künstler zum Sex-Pistols-Song "Anarchy in the UK" Cancan tanzen und die Kommunarden sich halbnackt auf dem Lager wälzen.
Witzige Musik
Wirklich meisterhaft an dieser Inszenierung ist die Musik Bettina Ostermeiers. Mit einem Kammer-Ensemble aus Kontrabass, Cello, Violine, Schlagwerk, sie selbst an Piano, Klarinette und Akkordeon, schafft sie mal dezente musikalische Marginalien, mal bearbeitet die Gruppe originale Puccini-Lieder, aber auch Songs von David Bowie, Gavin Friday, Funny van Dannen, Blixa Bargeld - auch John Dowlands "Flow My Tears" ist zu hören. Technisch perfekt; perfekt konzipiert auch die mehrstöckige Drehbühne von Peter Scior, in der sich waben- oder guckkastenartig die verschiedenen Schauplätze und auch die Musikerinnen einfügen.
Was bleibt also vom Menschen in der Revolte? Es bleiben drei Stunden gute Unterhaltung mit viel Applaus nach der Uraufführung am Samstag. Es bleiben gute, höchst originell arrangierte Songs. Hoffnung auf die Avantgarde-Funktion marginalisierter Intellektueller bleibt nicht.
Weitere Vorstellungen 22., 25., 28. April sowie im Mai, Juni und Juli. Genauer Terminplan sowie Karten unter www.staatstheater-nuernberg.de, Tel. 0180/5231600 Dauer ca. drei Stunden, eine Pause