Cameron Carpenter rockt die Klassik-Orgel
Autor: Martin Köhl
Bamberg, Montag, 27. Mai 2013
Das war noch nicht da: Rund 1000 Zuhörer bei einem Orgelkonzert in der Bamberger Konzerthalle. Der Star Cameron Carpenter war es wert: So hat man Bach oder Chopin noch nie gehört.
Es gibt Konzerte, die dermaßen polarisieren, dass Begeisterung und Ablehnung nahe beieinander liegen. Nach der ersten Halbzeit des lange erwarteten Auftritts von Cameron Carpenter in der Orgelreihe der Bamberger Symphoniker hätte man das Publikum (über 1000 Zuhörer bei einem Orgelkonzert!) fragen können, ob es darüber im FT einen Verriss oder eine Lobeshymne zu lesen wünsche - beides habe man im Angebot.
Die Waagschale hätte hier vielleicht noch gezögert, sich aber zum Konzertende tonnenschwer in Richtung Laudatio geneigt, denn was der weltweit gefeierte Orgelvirtuose aus Pennsylvania in der zweiten Halbzeit auf vier Manuale und eine Pedaltastatur zauberte, ließ jegliche Skepsis im Jubelsturm des Mehrgenerationenpublikums untergehen. Dabei durfte man anfangs durchaus fragen, was Carpenter dazu trieb, just die Werke des Säulenheiligen J.S. Bach in ihre molekularen Bestandteile zu zerlegen oder anderweitig zu verfremden. Dessen Suitensätze dienten als Vorlage für Registerfarbenspiele und Improvisationen, deren Harmonisierung auch mal im Kinoorgelstil wilderte.
Nicht nur Puristen durften sich über extreme agogische Dehnungen, willkürliche Betonung von Nebenstimmen oder ständige Registerwechsel wundern, von der Mutation eines 4/4-Taktes zum Walzertakt ganz zu schweigen. Die G-moll-Phantasie, schon bei Bach ein wildes Stück, war klanglichem Blitzlichtgewitter ausgesetzt und ersoff in bräsigen Bassfluten, doch in der Fuge mit ihrer langen Distanz tauchte Carpenters technische Meisterschaft unverstellt auf. Die berühmte Chaconne lag am Ende als zerfledderte Leiche da, zum Grausen jedes Geigers, aber auch zum Vergnügen der Kenner, die den Ohrwurm gerne einmal anders hören wollen.
Konnte man in der Pause über das Gehörte noch streiten, so musste in Halbzeit No. 2 jegliches Murren verstummen. Zu der erschien Carpenter im Hells-Angels-Wams, ganz gemäß des Programmzettels, laut dessen er ja als "gefallener Engel" gilt - Teufel auch! Der große Zerzauser wandelte sich in Marcel Duprés Noel-Variationen zum kongenialen Interpreten und Klangmagier, der betont harmlos mit einem Klarinettensolo beginnt, dann aber die ganze Vielfalt der Jann-Orgel erschließt. Betont bravourös ging es in Carpenters Eigenkomposition "Science fiction scenes" weiter, einer Art Orgeloper, die aufregend zwischen Dramatik und Salonton oszilliert.
Das Schlussfugato endet apotheotisch, zeitigt einhellige Begeisterung und macht Zugaben zur Pflicht. Zunächst ein Chopin-Walzer als Kabinettstückchen jener Art, wie man sie auf youtube oder Carpenters Homepage erleben kann - die Solostimme wohlgemerkt im Pedal... Nach der abschließenden Jazz-Paraphrase kennt der Jubel keine Grenzen mehr und zwingt zur Erkenntnis: wenn die Orgel sich im Konzertsaal behaupten und neue Hörerschichten gewinnen will, muss sie diese Wege gehen.