Babylon als polyglottes Opern-Metropolis
Autor: Monika Beer
München, Sonntag, 28. Oktober 2012
Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann hat mit "Babylon" seine erste abendfüllende Oper geschrieben. Die Uraufführung in seiner Heimatstadt München wurde am Samstag einhellig bejubelt.
Die Angst des Opernpublikums vor zeitgenössischen Werken ist nicht unbegründet. "Babylon" ist anders: Die neue Oper in sieben Bildern von Jörg Widmann ist zwar in jeder Hinsicht anspruchsvoll, klingt musikalisch zuweilen auch wenig eingängig und grell, ist inhaltlich anspielungsreich und bedeutungsschwer. Aber sie ist auch das Gegenteil von alledem, ermöglicht jedem das Einfühlen in das, was verhandelt wird. Und sie macht - auf höchstem Niveau - ganz einfach Spaß!
Man kann der Bayerischen Staatsoper zur Uraufführung dieses Auftragswerks nur gratulieren. "Babylon" ist eine großartige Gesamtleistung des Hauses - und ein Glücksfall. Was nicht unbedingt zu erwarten war. Schließlich überredete der aus München stammende Klarinettist und Komponist Jörg Widmann ausgerechnet den Philosophen Peter Sloterdijk dazu, erstmals ein Libretto zu schreiben. Das hätte genauso schief gehen können wie die Inszenierung durch Carlus Padrissa von La Fura dels Baus.
Einstürzende Buchstabenbauten
Doch das für den Katalanen typische Körpertheater und die überbordende Bilderfülle - die reale und einfallsreiche Ausstattung (Bühne: Roland Olbeter, Kostüme: Chu Uroz) wird hier spektakulär und virtuos vernetzt mit digitalen Theatermedien (Videos: welovecode/Tigrelab) - entsprechen ja dem Sujet. Anders als etwa in seiner Münchner "Turandot"-Inszenierung gehen die Figuren der Handlung hier aber nicht unter. Trotz der beeindruckenden Sintflut, Feuervorhänge und einstürzender Buchstabenbauten.
Es gelingt ihm an zentraler Stelle sogar, noch zu potenzieren, was im sprachmächtigen und anspielungsreichen Libretto und in der aufregend vielschichtigen Partitur steht. Wenn Inanna, die Priesterin der freien Liebe, ins Totenreich hinabsteigt, um ihren beim Neujahrsfest den Göttern geopferten Geliebten Tammu ins Leben zurückzuholen, ist die Bühne nicht etwa übersät von toten Leibern, sondern mit ineinander verkeilten Menschen, die gewissermaßen im Sex den kleinen Tod feiern.
Aus dem Swingerklub auf die Opernbühne
Dass dafür per Videokonferenz sechzig reale Swinger aufgenommen wurden, mag genauso nach bewusster Provokation riechen wie zuvor die Auftritte der sieben Vulven und sieben Phalloi. Es gibt viele Fast-Nackedeis auf der Bühne, aber sie sind weder skandalös noch anstößig. Die Höllenszene ist voll von sinnlicher Magie, die Genitalseptette wirken eher unfreiwillig komisch und sind der rechte Vorgeschmack auf das in jeder Hinsicht aberwitzige Treiben beim karnevalesken Neujahrsfest.
Spätestens wenn in schrägen Variationen der bayerische Defiliermarsch erklingt, der Skorpionmensch schuhplattelt und in der Multikultimenge die Maßkrüge kreisen, wird klar, dass der Mythos Babylon nicht so abgehandelt wird wie in der Bibel. Sondern sich abspielt in einer nicht allzu fernen, archaisch eingefärbten Zukunft, wie sie selbst in einer Weltstadt mit Herz aussehen könnte.
Überraschende musikalische Zitate
Apropos: Die Seele spielt bei dieser Liebesgeschichte, in der gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche Kulturen und Religionen apokalyptisch aufeinander prallen, eine Hauptrolle. Wenn diese Figur in Frauengestalt sich auflöst, öffnet die Musik einen Raum, der nicht umsonst an Richard Wagners gralsglockenklingenden "Parsifal"-Verwandlungen erinnert. Überhaupt sind die akustischen Déjà-vu-Erlebnisse ein spezifisches Merkmal dieser Oper.
Was nicht heißen will, dass der Komponist abgekupfert hat. Im Gegenteil. Was immer er sich hier einverleibte - ob nun alte oder neue, klassische oder Volksmusik, Jazz, Musical und natürlich immer wieder Oper, angefangen bei Monteverdi über Mozart und Wagner bis hin zu Alban Berg, Schönberg und Leonard Bernstein - er macht daraus in seinem/r polyglotten Opern-Metropolis etwas Eigenes, stellt die immer wieder aufblitzenden Anverwandlungen raffiniert in neue, anders gefärbte, überraschende Zusammenhänge.
Eine Materialschlacht in jeder Hinsicht
Turmbau und babylonische Sprachverwirrung werden nicht visualisiert, sondern finden in der Musik statt, die mal kraftvoll wuchert, dann wieder unendlich zart vergeht, die in jedem der sieben, zeitlich sich verjüngenden Bilder anders klingt, mal in fast vertrauten Harmonien, dann wieder in bestürzenden Reibungen von gegeneinander gestellten Schichten. Das ungewöhnliche Klang- und Stilgewitter wird von einem Orchester mit vierfach besetzten Holz-, Blech- und zusätzlichen Schofarothbläsern, viel Schlagwerk, Celesta, Akkordeon, Klavier und Orgel entfacht.
Auch bei den Gesangsstimmen ist der Aufwand enorm. Der Chor ist an manchen Stellen 94-stimmig aufgefächert, dazu gibt es sechs zum Teil extrem geforderte Hauptsolisten, einen Sprecher, weitere Nebenrollen, darunter auch für Knabenstimmen, und die solistisch besetzten Septette. Kein Wunder, dass das Dirigentenpult für die vertikal und horizontal ausufernde Partitur eigens erweitert werden musste.
Premierenjubel auch für die Solisten
Kent Nagano, der scheidende Generalmusikdirektor, zeigte sich bei der Uraufführung am Samstag als genau der richtige Mann, um diesen babylonischen Kraftakt mit allem Mitwirkenden im Graben und auf der Bühne präzise umzusetzen. Der Dirigent wurde denn auch fast so euphorisch gefeiert wie Komponist, Szeniker und die Solisten - mit einer sängerdarstellerisch phänomenalen Anna Prohaska als Inanna an der Spitze.
Die Rolle ist der jungen Sopranistin auf den Leib und auf die Stimmbänder geschrieben. Mit einem Fingerschnacksler bringt diese Inkarnation der Kriegs- und Liebesgöttin Ischkar und der Kinogöttin Marlene Dietrich jeden oktoberfestbierselig enthemmten Haufen zum Stillstand. Und fast genauso schnell vermag sie zu zeigen, dass das Leid in dieser aus den Fugen geratenen Welt vor keinem Halt macht. Und das ist atemberaubend.
Termine und Karten
Weitere Vorstellungen am 31. Oktober, 3., 6. und 10. November sowie bei den Münchner Opernfestspielen am 21. Juli. Karten-Telefon 089-21851920.