Druckartikel: Arno Schmidt: Ein Genie würde 100 Jahre alt

Arno Schmidt: Ein Genie würde 100 Jahre alt


Autor: Rudolf Görtler

Celle, Samstag, 18. Januar 2014

Vor 100 Jahren wurde Arno Schmidt geboren. Der Außenseiter war ein literarischer Neuerer und bei aller ätzender Kritik an Gott und der Welt ein ungemein witziger Autor.
Arno Schmidt an seinem Schreibtisch


In welchem deutschen Roman würde die Crux der Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso ätzend auf den Punkt gebracht: "Und die gleichen Gannowen hatten sich bereiz wieder auf die Hälfte aller ,führenden Posizjohnen‘ geschlängelt"? Mit dem Zitat aus "Kaff auch Mare Crisium", erschienen 1960, sind schon zwei Eigenarten im frühen und mittleren Werk Arno Schmidts, der vor 100 Jahren in Hamburg geboren wurde, charakterisiert.

Einerseits bezog er als "guter linker Mann" entschieden Position gegen Adenauer-Staat, politischen Katholizismus, Remilitarisierung in den frühen Jahren der BRD. Andererseits erfand er als literarischer Avantgardist neue Prosaformen, zu denen auch die Missachtung der "ferkorxde[n] Orrto=Graffie" gehörte, im Extremfall schnurrten die Sätze auf Zeichen zusammen: ,;.-:!-:!!". In späteren Jahren gab der Einsiedler, der sich mit seiner Frau 1958 in ein Häuschen am Rand der Lüneburger Heide

zurückgezogen hatte, zunehmend reaktionäre Sottisen von sich und schrieb ein singuläres Werk ohne Rücksicht auf Leser und vor allem die eigene Gesundheit.

Schmidt stammte aus kleinen Verhältnissen. Er wuchs in einem Stadtteil Hamburgs auf und zog nach dem Tod des Vaters, eines Polizisten, mit der Mutter ins schlesische Lauban. Das hoch begabte Kind lernte früh lesen: Karl May und Jules Verne beschäftigten noch den Erwachsenen. Nach dem Abitur begann er eine kaufmännische Lehre.

In den 30er Jahren führte Schmidt zusammen mit seiner Frau Alice, die er in den Greiff-Werken kennen gelernt und 1937 geheiratet hatte, eine "NS-Mitläufer-Buchhalterexistenz" (so der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck) mit ausgeprägten literarischen Interessen, aus der ihn die Einberufung jäh herausriss. Nach dem Krieg war Schmidt ein anderer. Er war zum an Schopenhauer geschulten Pessimisten, zum "heulenden Gehirntier" geworden. Unter schwierigsten materiellen Bedingungen schlug sich das Ehepaar Schmidt in der Nachkriegszeit durch, arbeitete an einer minuziösen Fouqué-Biographie. In der Erzählung "Leviathan" von 1949 bereiten sich der Ich-Erzähler und seine Geliebte angesichts einer heillosen, entsetzlichen Welt am Schluss auf den Selbstmord vor. Dies alles geschildert in einer am Expressionismus geschulten, elaborierten Sprache. Schmidts Helden sind hoch gebildete, räsonierende Eigenbrötler und Außenseiter, Doubles des Autors, der sich in "Schwarze Spiegel" (1951) in eine menschenleere Welt als einziger Überlebender eines Atomkriegs fantasierte.

In seinen "Berechnungen" reflektierte Schmidt über neue Prosaformen, die "konforme Abbildung von Gehirnvorgängen". Diese "Snapshots", Gedankensplitter und Momentaufnahmen, sowie die ungeheure Belesenheit des Autors, sein Faible gerade auch für vergessene Autoren sowie die erwähnte phonetische Schreibweise machen es dem Leser nicht einfach. Dennoch erfasst "Das steinerne Herz" (1953) die Realität der kleinen Leute im geteilten Deutschland wie kein anderer Roman der Zeit, steht "Seelandschaft mit Pocahontas" (1955), das Schmidt eine Anklage wegen Gotteslästerung und Pornographie einbrachte, auf einsamer Höhe in der deutschen Literaturlandschaft der 50er Jahre.

Das erkannten auch Förderer und verschafften Schmidt Rundfunk-Aufträge, die ihm materiell halfen. Es waren Brotarbeiten, aber die witzigen Dialog-Essays zu Autoren der deutschen und angelsächsischen Literatur sind heute noch lesenswert. Damit und mit Übersetzungen - so zusammen mit dem Bamberger Hans Wollschläger von Edgar Allan Poe - kompensierte er die mageren Verkaufszahlen der Werke seiner frühen und mittleren Phase. Von allen materiellen Sorgen erlöste ihn erst das Mäzenatentum Jan-Philipp Reemtsmas, der nach dem Tod des Schriftstellers eine Arno-Schmidt-Stiftung gründete.

1970 erschien das Überbuch: "Zettel's Traum", zusammenmontiert aus weit über 100.000 Notizzetteln, 1334 Seiten im A3-Format, lange nur als fotomechanisch reproduziertes Typoskript erhältlich. Man sollte bedenken: Das Großwerk, beeinflusst von James Joyce und psychoanalytischer Literaturinterpretation in der Folge Sigmund Freuds ("Etym"-Theorie), ist eher untypisch für Schmidt. Die Dankesrede zum Goethe-Preis 1973 provozierte wegen der Angriffe auf die junge Generation einen Eklat. Es folgten noch zwei weitere Typoskript-Romane und ein Fragment, bis Schmidt, zermürbt von exzessiver Arbeit und Stimulanzien, 1979 in Celle starb.

Warum Schmidt lesen? Der Autor hat bis heute eine treue Anhängerschaft, die sich über eine Mailing-Liste, eine eigene Zeitschrift ("Bargfelder Bote") und eine "Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser" austauscht. In der Literaturwissenschaft kann man auf Schmidt-Studien dagegen kaum mehr Karrieren gründen. Was lange nicht erkannt worden ist: Der frühe und mittlere Arno Schmidt, der späte bedingt, war einer der ätzendsten Humoristen in der deutschen Literatur. Seine zur Schau getragene Brachialkritik an Gott und der Welt wirkt nach wie vor erfrischend. Und nach Schmidt wird jeder, der ähnlich rabiat und virtuos mit der deutschen Sprache umgeht, nur noch als Epigone gelten können.

Lektüretipp Die zurzeit beste Einführung ins Werk Schmidts gibt "Arno Schmidt. Das große Lesebuch", hg. v. Bernd Rauschenbach, Frankfurt: Fischer 2013, 448 S., 9,99 Euro