Apokalyptisches Weh und Ach in der "Walküre"
Autor: Monika Beer
Nürnberg, Montag, 07. April 2014
Die Neuinszenierung von Richard Wagners "Walküre" in Nürnberg ist aus mehreren Gründen eine Wucht. Sämtliche Solisten überzeugen, allen voran Rachael Tovey als Brünnhilde und Antonio Yang als Wotan.
Als Evelyn Herlitzius 2002 in Jürgen Flimms Bayreuther "Ring"-Inszenierung die Brünnhilden übernahm, war das für mich ein herausragendes Ereignis, weil ich nie zuvor eine derart jung wirkende Wotanstochter erlebt hatte. Rachael Tovey, Brünnhilde in der neuen "Walküre" am Staatstheater Nürnberg, schafft das auch, obwohl sie keine jugendlich schlanke Erscheinung ist, sondern voll dem Walkürenklischee entspricht. Anders als einschlägige Sing statuen ist sie allerdings eine sängerdarstellerische Wucht - und nicht die einzige in der an Überraschungen reichen Neuinszenierung.
Der neue, jetzt zur Hälfte vorliegende Nürnberger "Ring" nimmt rasant Fahrt auf. Es fällt nicht schwer zu prophezeien, dass der Run zumindest auf die "Walküre"-Karten ein Ausmaß annehmen wird wie ehedem in Bayreuth. Denn diese Produktion kann erstens mit einem rundherum überzeugenden Solistenensemble aufwarten, lässt zweitens auch, was das Orchester betrifft, aufhorchen und ist drittens in weiten Teilen szenisch gelungen, was nach dem fast nur mit dem Regieholzhammer bearbeiteten "Rheingold" nicht unbedingt zu erwarten war.
Mehr Emotionen, weniger Holzhammer
Regisseur Georg Schmiedleitner, der just vor der Premiere in die Schlagzeilen kam, weil er als Einspringer für den entlassenen Burgtheaterdirektor den Ruf erhielt, bei den Salzburger Festspielen das schwierige Weltuntergangsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus zu inszenieren, hat diesmal auf viele der von ihm gepflegten Regietheatermätzchen verzichtet und sich darauf konzentriert, die Handlung mit klar konturierten, emotional alle Höhen und Tiefen auslotenden, sehr plastischen Figuren zu erzählen. Nur wenige seiner szenischen Einfälle sind wirklich neu, aber die großen und kleinen Déjà-vu-Erlebnisse finden in einem in sich schlüssigen Gesamttableau aus stringenter Personenführung und stringenten Bildfindungen statt.
Es ist eine apokalyptische, eine kriegerische und gottverlassene Welt, in der Wotan immer noch glaubt, die Strippen ziehen zu können. Die Bühnenbilder von Stefan Brandtmayr setzen die Endzeitstimmung schlüssig um: Von Hundings Haus, hinter dem sich ein Strommast quergelegt hat und Altreifen türmen, sind nur noch ein paar Wände übrig, in denen zum Wonnemond störend lang die Plastikfolien im Bühnenwind knattern. Familie Wotan hat ihr Ledersofa in den Bunker mit Leitstand gerettet, die Walküren rekrutieren vor einem altmodischen Propagandaplakat im XXL-Querformat Kindersoldaten, die sie in Käfigen halten und quälen.
Fast alle machen sich schuldig
Menschendämmerung ist angesagt, garniert mit unnötig viel Alkoholkonsum. Männer und Frauen sind oft gleichzeitig Täter und Opfer, die wenigen Ausnahmen kann man an einer Hand abzählen. Nur die drei wichtigsten Wotanskinder machen sich im ewigen Machtkampf höchstens notgedrungen die Hände blutig, was ihnen bekanntlich aber wenig nützt. Der martialisch tätowierte Hunding mag halbrohe Innereien und fällt Siegmund brutal mit einem Beil, Sieglinde ist dem Wahnsinn schrecklich nahe, darf gerade noch ihr Kind austragen und dann sterben - und was aus Brünnhilde wird, weiß man aus der "Götterdämmerung".
Wie Rachael Tovey die hier zwar rotzfreche, aufmüpfige und doch folgsame Vatertochter singt und spielt, ist ein musikdramatisches Elementarerlebnis. Sie erreicht eine sängerdarstellerische Wahrhaftigkeit, eine Authentizität, die unmittelbar packt. Jede ihrer Bewegungen und mimischen Ausdrucksvarianten erscheinen, selbst wenn sie an Stummfilmexpressionismus erinnern, als vollkommen richtig und natürlich. Das vermeintlich kalte Herz dieser Walküre ist hörbar übervoll an Wärme, ihre verzweifelte Liebe zum Vater und den Halbgeschwistern geht jedem, der Augen für unverfälschte menschliche Schönheit hat, unter die Haut.
Wotan weint in leisen Tönen
Wenn Wotan ihr befiehlt, Siegmund fallen zu lassen, hält sie sich die Ohren zu, schon bevor Wotan sie in ihren Dornröschenschlaf versetzt, schließt sie gottergeben die Augen. Der 1974 in Südkorea geborene Bariton Antonio Yang ist nach seinem phänomenalen "Rheingold"-Alberich auf Anhieb auch ein Göttervater der Spitzenklasse: Fulminant die Wutausbrüche, bewegend sein innerliches Abdanken und der tiefe Abschiedsschmerz - mehr als sonst in leisen Tönen.
Was auch mit der Lesart von Generalmusikdirektor Marcus Bosch zu tun hat, der nicht nur aus Platzgründen auf einige der mehrfach besetzten Orchesterstimmen zugunsten der besseren Wortverständlichkeit verzichtet. Trotz Premierenfiebers vor allem bei den Bläsern war das, was am Samstag aus dem Orchestergraben kam, beeindruckend - bis hin zum blutverschmierten Stierhornbläser in der Szene.
Rücksichtslos gegen sich selbst
Beeindruckend auch die weiteren Solisten - mit dem grobschlächtigen Hunding von Randall Jacobsh, der furiosen Fricka von Roswitha Christina Müller und dem hellsichtig von vornherein verloren in die trostlose Welt schauenden Wälsungenpaar. Vincent Wolfsteiner singt und spielt den Siegmund, als gelte es sein Leben. Den lang gehaltenen Wälseruf schleudert er eben nicht als tolle Tenornummer ins Auditorium, sondern als drängenden Hilferuf - und tatsächlich musste man im zweiten Akt ein bisschen um ihn und seinen gegen sich selbst rücksichtslosen Stimmeinsatz fürchten. Ekaterina Godovanets als mit schönem Sopran aufblühende Sieglinde geht ebenfalls derart in ihrer Rolle auf, dass man als Zuschauer endlich einmal weniger in der inzestuösen Liebesgeschichte schwelgt, sondern mehr das Scheitern dieser zwei unglückseligen Wotanskinder vor Augen hat.
Stimmlich vorzüglich die acht Walküren, regielich bleiben sie trotz viel ach-so bös gemeintem Bohei auf der Bühne unterbelichtet. Ihre effektheischenden Auftritte samt Kinderstatisten erreichen nur einmal Sinnfälligkeit: Wenn Wotan der degradierten Brünnhilde den roten Ledermantel (Kostüme: Alfred Mayerhofer) abnimmt, ziehen sich deren pervertierte Schwestern prompt die roten Mäntel über, um weiter mitzumischen in Wagners Weltuntergangsparabel, die in Nürnberg in der nächsten Saison ihr bitteres Ende nehmen wird.
Bayreuther Postskriptum
Wie lebensnah die Figuren aus Richard Wagners "Ring"-Tetralogie sind, unterstrich eine prominente Premierenbesucherin. In der Mittelloge saß mit Noch-Festspielleiterin Eva Wagner-Pasquier eine sogar zweifach degradierte Wunschmaid: Wolfgang Wagners Tochter aus erster Ehe wurde bekanntlich zweimal aus ihrem Festspielhaus-Walhall vertrieben: 1976 vom eigenen Vater und dessen zweiter Frau Gudrun, aktuell von der Gesellschafterversammlung der Festspiel-GmbH, die ihren Vertrag nach 2015 nicht verlängern wird, obwohl sie eigentlich gern weitergemacht hätte.
Apropos: Die Bayreuther Festspiele sind endlich ihre vielen überzähligen Eintrittskarten losgeworden, die es seit 22. März plötzlich online im Sofortkauf gab. Wie bitte? Sind denn Festspielkarten keine Mangelware mehr? Fakt ist, dass der Onlineverkauf vom 15. Oktober 2013, wo etwa 20 000 Tickets innerhalb von drei Stunden den Besitzer gewechselt haben sollen, doch nicht so rund gelaufen ist. Es gab nicht nur erhebliche technische und skandalöse datenschutzrechtliche Pannen, sondern, weil jeder Besteller immerhin elf Karten auf einmal bestellen durfte, zumindest hinterher lange Gesichter. Laut Festspielsprecher Peter Emmerich bat eine nicht näher definierte Menge an Kunden um Stornierung (die die Geschäftsbedingungen ausschließen) und bezahlte nicht. Von 22. März an konnte man vor allem in den höheren Preiskategorien Karten für alle Vorstellungen im Zeitraum von 8. bis 18. August bestellen - und man durfte sogar vierzehn (!) Tickets auf einmal haben. Ausgerechnet die Karten zum zweiten Zyklus der "Ring"-Neuinszenierung vom Vorjahr blieben am längsten verfügbar und waren erst am Wochenende weg - gerade noch rechtzeitig, bevor Kritiker schreiben konnten, dass Kirill Petrenko den "Ring" auch in München dirigieren wird und dass es womöglich bald in Nürnberg einen zeitgemäßen "Ring" gibt, bei dem das Publikum nicht um seine Gefühle betrogen wird.