Forscher ratlos: Warum sind die Stichlinge im Bodensee weg?
Autor: Agentur dpa, Redaktion
Langenargen, Samstag, 21. Sept. 2024
Erst explodierte seine Population regelrecht, nun scheint er fast komplett verschwunden zu sein - Forscher konnten bei einer neuerlichen Fischzählung keine Stichlinge mehr im Bodensee entdecken.
Ein kühler Morgen für die Fischzählung: Auf dem grauen Bodensee versammeln sich Fischer und Forscher an der österreichischen Küste für eine außergewöhnliche Inventur. An mehreren Standorten werden Netze ausgeworfen. "Die ersten Fänge kommen gleich", sagt Berufsfischer Franz Blum und zieht kurz darauf zahlreiche Fische aus dem Wasser.
In welchem Zustand befinden sie sich? Wie groß und wie schwer sind sie? An Land analysieren die Fischereibiologen die Fänge detaillierter. Nach zwei Forschungsprojekten in den Jahren 2014 und 2019 wird alle fünf Jahre im Auftrag der staatlichen Fischerei und des Gewässerschutzes eine Bestandsaufnahme der Fische im See durchgeführt. Rotaugen, Hechte, Zander, Barsche, Felchen: Alle bekannten Bodensee-Fische sind vorhanden. Doch eine eigentlich dominante Art ist fast verschwunden: der Stichling.
Stichling plötzlich aus Bodensee verschwunden - Wissenschaftler rätseln über Ursache
Der kleine, stachelige Fisch wurde in den 1950er Jahren erstmals im Bodensee nachgewiesen und hatte sich ab 2012 überraschend vermehrt. Laut Fischereiforschungsstelle machte er bis Anfang des Jahres mehr als 90 Prozent der Fische im Freiwasser aus. Genauso überraschend wie seine Vermehrung ist auch sein mysteriöses Verschwinden. "Eigentlich müssten die Netze voll mit Stichlingen sein. Das ist eine Bucht hier, in der sie sich gerne aufhalten", sagt Alexander Brinker, der Leiter der Fischereiforschungsstelle.
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So war es auch bei der letzten Inventur 2019. "Aber wir haben erst nur ein paar wenige Exemplare aus dem Wasser gezogen", berichtet er. Warum? Die Wissenschaftler können sich die ersten Ergebnisse ihrer Inventur nicht vollständig erklären. Nichts deutete auf ein massenhaftes Fischsterben im Bodensee hin. Im Frühjahr waren die kleinen Fische, die dem Bodensee-Felchen Schwierigkeiten bereiteten, zahlreich mit dem Echolot ortbar. "Wir haben bei den letzten Befischungen Hunderte von Stichlingen gefangen, jetzt sind es insgesamt keine 50."
"Eine Pandemie könnte für den Tod der Fische verantwortlich sein", sagt Brinker. Aber auch ein Parasit sei nicht auszuschließen. "Wenn die Population einer Art überhandnimmt, reguliert sich der Bestand oft von allein." Die Dichte sei dann so hoch, dass es eine große Übertragungswahrscheinlichkeit von Krankheiten gebe. Auch die aktuelle Hochwasserlage im Frühjahr und Sommer könnte eine Rolle spielen.
Pandemie oder Parasit? Verschwinden des Stichlings nicht unbedingt schlechte Nachricht
Die genaue Ursache für das Fehlen der Fische sei rückwirkend schwer zu ermitteln. Für Forscher und Fischer wäre das Verschwinden der Stichlinge eine erfreuliche Nachricht. Die wohl aus Aquarien in den See eingebrachte Art sorgte seit Jahren für ein Ungleichgewicht im Ökosystem. Die Bodensee-Felchen wurden durch den Stichling sowohl im Kampf um das Plankton als auch durch das Fressen ihrer Eier und Larven beeinträchtigt. Der Bestand der Felchen, die eigentlich die Leitart im Bodensee darstellen, ging immer weiter zurück. Im vergangenen Jahr fingen die Fischer lediglich etwas mehr als neun Tonnen des beliebten Speisefischs. Es hätten aber 350 Tonnen sein können, wie Brinker erklärt. Das würde der See hergeben.
Um den Felchen-Bestand zu schützen, beschloss die Internationale Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei ein dreijähriges Fangverbot im Bodensee-Obersee. Das Verbot trat am 1. Januar dieses Jahres in Kraft. Viele Berufsfischer kritisierten die Maßnahme als Verzweiflungstat, die durch ein früheres Eingreifen hätte verhindert werden können. Die Inventur, die vor etwa zwei Wochen vor der Insel Reichenau begonnen hat, zeigt bereits, dass sich die Felchen etwas erholt haben.