Crystal: Droge der gehobenen Schicht?
Autor: Jochen Nützel
Hollfeld, Montag, 24. November 2014
Der Bayreuther Suchtmediziner Roland Härtel-Petri warnt davor, Crystal Meth als Party- oder "Leistungsdroge" zu verharmlosen. Er versteht nicht, warum Ermittlungsbehörden nicht stärker den Verteilern und Großlaboren jenseits der Grenze auf die Pelle rücken.
Im Zweiten Weltkrieg hieß der Stoff Panzerschokolade, Stukka-Tablette oder Göring-Pille. Eine Wunderwaffe zum Schlucken, verabreicht zur körperlichen Ertüchtigung deutscher Soldaten und zur Beseitigung der Angst im Blitzkrieg gegen Polen. Denn gegen die Furcht vor dem Feind half Pervitin: ein Dragee zur Dämpfung von Phobien bei gleichzeitiger Erhöhung der Schlagkraft. Hauptbestandteil von Pervitin war Methamphetamin. Neu ist der Stoff also nicht. Aber heute lässt er als Crystal Meth die Alarmglocken schrillen - auch bei Suchtmedizinern wie dem Bayreuther Psychotherapeuten Roland Härtel-Petri.
Allein die Menge machte Schlagzeilen: Der Polizei gelang ein Schlag gegen die Produzenten von Crystal Meth - 2,9 Tonnen Chlorephedrin, ein Vorprodukt, wurden sichergestellt.
Ein Zeichen, dass die Kooperation zwischen deutschen und tschechischen Ermittlungsbehörden besser funktioniert?
Roland Härtel-Petri: Durchaus, das ist ein Zeichen dafür, dass die Polizei in beiden Ländern seit einigen Jahren tatsächlich kooperiert und oftmals nur Schwierigkeiten hat, weil die Gesetzgebung jenseits der Grenze eine andere ist.
In Tschechien ist der Besitz von Kleinstmengen nicht strafbar, sondern lediglich Ordnungswidrigkeit. Zwei Gramm ist den Behörden keine Strafverfolgung wert.
Im Fall Crystal ist das keine Kleinstmenge. Das sind 20 Konsumeinheiten, wenn es als Droge eingenommen wird. Und 200, wenn es als Medikament verwendet wird. Das ist eine enorm hohe Menge, die da frei ist. Das ist eine Dosis, die für einen Abhängigen für mehrere Tage ausreicht.
Man muss wissen: Für lange Zeit pendeln die Betroffenen zwischen 100 und 200 Milligramm später schnellt das auf 500 bis 1000 Milligramm hoch.
Sie haben als Suchtmediziner seit vielen Jahren direkt mit Drogenkosumenten zu tun. Was ist das Drastische an Crystal verglichen mit anderen Substanzen?
Das, was für uns Psychiater das Gravierende ist, sind die Nervenzellschädigungen im Gehirn. Das bedeutet: Die Betroffenen haben Gedächtnisstörungen, sie können sich nicht konzentrieren, sind leicht ablenkbar. Auch die Psychosen sind besonders dramatisch. Ein solcher Mensch ist nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, ob der, der an der Tür klingelt, der nette Postbote ist oder der Drogendealer, dem er Geld schuldet. Da ist die Gefahr groß, dass derjenige vor der Haustür aus für ihn heiterem Himmel attackiert wird.
Das Dritte ist: In der psychiatrischen Behandlung stellen wir eine Abstumpfung, eine Gefühlskälte bei den Betroffenen fest. Das ist etwas, was auch die Angehörigen häufig berichten. Betroffene können sich nicht auf ihr Gegenüber einstellen und sind nicht im Stande, sich adäquat um ihre Kinder zu kümmern.
Zunächst aber kommt es beim Gebrauch von Crystal doch zu Hochgefühlen...
Oh ja, für den Konsument ist das der vermeintliche Superkick. Er fühlt sich toll, er kann die ganze Nacht wach bleiben, kann Alkohol ohne spürbaren Einschränkungen trinken. Egal, was er tut: Es macht ihm alles Spaß, selbst die sinnloseste Tätigkeit. Die Menschen können mit Akribie einen Kugelschreiber hundert Mal auseinander nehmen.
Cyrstal gilt als Droge der gehobeneren Schichten.
Michael Hartmann, SPD-Bundestagsabgeordneter, gab zu, er habe im Herbst 2013 Crystal genommen, um sich fit zu machen für die Koalitionsverhandlungen. Wie bewerten Sie solche Darstellungen?
Ich bin froh, dass Sie das ansprechen. Die Einlassung von Herrn Hartmann ist eine absolute Katastrophe, ich reagiere da immer noch sauer drauf. Die Behauptungen, die er gemacht hat, kann jeder, der sich mit der Materie befasst, mühelos entkräften. Seine Dealerin behauptete, er habe binnen 30 Tagen drei Mal ein Gramm gekauft, also 3000 Milligramm. Das wären für 30 Tage 100 Milligramm pro Tag. Wenn er das Methamphetamin als Substanz zur Leistungssteigerung genommen hätte, wie er behauptet und so wie Menschen das früher mal mit Pervetin als Stimulanz getan haben, dann hätte er Crystal in Dosierungen genommen von drei bis fünf, maximal zehn Milligramm pro Tag. Das wäre eine Art Kaffeeersatz gewesen.
Dann hätte er sich 300 Konsumeingeiten gekauft. Aber: Kein Mensch hat bei dieser Dosierung für einen Beruf, wie er ihn ausübt, eine Leistungssteigerung zu erwarten. Der wird höchstens aggressiv und gereizt. Das ist völlig kontraproduktiv. Deswegen gehe ich davon aus, dass er ein abhängiger Konsument war und das nur nicht zugibt. Ich gehe davon aus, er musste schlicht nachlegen - so wie ein Spiegeltrinker, der tagsüber sein Schnäpschen braucht, um seinen Promillewert zu erreichen und so überhaupt "funktionieren" zu können.
Bei Bundestagsabgeordneten hieß es ja immer spöttisch, die würden auf der Toilette koksen. Koks und Crystal: Wo liegt der Unterschied?
Kokain führt schneller zu Herzproblemen. Es wird aber, so weit wir das sagen können, nicht in die Nervenzelle aufgenommen. Deshalb sterben die auch nicht ab.
Wer Kokain absetzt, kann darauf hoffen, dass sich sein Körper relativ schnell und komplett erholt. Bei Crystal aber dauert das viel länger, der Einfluss auf die Nerven ist erheblich größer. Ich denke übrigens nicht, dass viele Politiker Kokain einnehmen, schon gar nicht für eine chte Leistungssteigerung. Wenn, dann solche, die auf Egomanen-Sex trips sind wie etwa Michel Friedmann.
Kommt ein länger Abhängiger überhaupt ohne Spätfolgen aus der Nummer raus?
Wir wissen, dass es Menschen gibt, die auch nach dem Absetzen dauerhaft Schäden behalten, das kann ich aus 17-jähriger Tätigkeit sagen. Aber: In den allermeisten Fällen bildet sich die Schädigung zurück. Diese Menschen kehren zurück ins Leben. Sie können lachen. Sie spüren, wenn ein Mensch einen Witz gemacht hat und erkennen auch wieder den doppeldeutigen Sinn dahinter.
Sie können sich auch wieder als gute Eltern um ihre Kinder kümmern. Die Betroffenen sagen dann: Ja, jetzt bin ich ich wieder ich selber.
Klassisches Einstiegsalter für die erste Crystal-Linie sind laut Statistik die Jugend und Adoleszenz. Woran merken denn Mitschüler oder Freunde, dass sich ihr Sitznachbar oder Sportkumpel etwas eingeworfen hat?
Typischerweise reden wir von einem hedonistischen Konsum. Heißt: Der erste Versuch ist die Party am Wochenende, wenn die jungen Leute wach sein und durchfeiern wollen. Danach ist es aber so, dass sie schlafen müssen. Am Montagmorgen, am Ausbildungsplatz, in der Schule oder Uni, schlafen diese Menschen tief und fest. Logisch, der Körper holt sich irgendwann die fehlende Ruhe zurück. Das ist ein signifikantes Signal.
Bei einer akuten Einnahme wirkt derjenige verlangsamt, hat erweiterte Pupillen.
Es kann zum so genannten Laberflash kommen, also er redet ohne Pause. Eltern sollten darauf achten: Wenn der Filius nach der Fete nach Hause kommt und danach mitten in der Nacht im Zimmer anfängt, Möbel zu rücken, statt ins Bett zu fallen: Dann ist das ein völlig unnormales Verhalten. Das wiederum deutet auf eine Substanz hin, die dazu führt, dass jemand alles Spaß bereitet, was er tut - mag es noch so sinnlos sein. Er kann nicht schlafen und muss sich wie unter Zwang beschäftigen.
Als eine der Einflugschneisen für das kristalline Pulver gilt Oberfranken, der Stoff kommt unter anderem von den grenznahen "Vietnamesen-Märkten" ins Land. Wenn das die Behörden wissen: Warum lässt sich zumindest diese Quelle nicht trockenlegen?
Gute Frage. Die deutsche Polizei sagt: Sie kann keinen Einfluss nehmen auf die tschechischen Kollegen.
Die wiederum sagen, sie hätten keine gesetzliche Handhabe. Das ist wie beim Pingpong.
Ich habe viele Jugendliche erlebt, die von ihren Eltern zu Besuchen auf besagten Märkten mitgenommen wurden. Dort haben sich Mama und Papa die gefälschten Marken-Handtaschen, Uhren und Musik-CDs gekauft und natürlich die Billig-Zigaretten. Die Jugendlichen haben also gleich mal gelernt, dass das sich Eindecken mit zweifelhaften Gütern offenbar normal ist und man sich nicht groß um Gesetze scheren muss. Die Händler werden als vertrauenswürdig wahrgenommen - und das auch im Bezug auf Drogen. Wir müssen bei Crystal viel mehr über die Verantwortung der Eltern reden, nicht nur darüber, was Vater Staat an Schutz leisten kann.
In den USA geschieht das Ausheben von Drogenzentren sehr nachhaltig und unter Zuhilfenahme moderner Überwachungsmittel.
Können Sie sich vorstellen, dass man auch in Deutschland und dem angrenzenden Ausland mit diesem Vorgehen den Crystalproduzenten auf die Spur kommen könnte?
Die USA sind in der Lage, mittels Satelliten nach Abfallstoffen im Boden zu fahnden. Diese Stoffe stehen irgendwo in der Nähe dieser Labore und ließen sich aufspüren. In der Tat verstehe ich nicht, warum die Großlabore bei unseren tschechischen Nachbarn noch nicht ausgehoben wurden. Da reden wir von Herstellungsmengen im Tonnenbereich. Da kommt auch wieder das eingangs erwähnte Chlorephedrin ins Spiel. Da muss angesetzt werden: An wen ging das? Wer verarbeitet das in solcher Größenordnung weiter?
Sie sind Buchautor, halten Vorträge auf Kongressen, sind Kompetenzpartner für Ermittlunbsbehörden.
Aus Ihrer Sicht: Sorgen wir uns derzeit nicht zu sehr um Unwarscheinlichkeiten wie Ebola und lassen die wahren Bedrohung wie Crystal Meth zu weit außer acht?
Es ist zum Glück eine ganze Menge passiert in der jüngsten Vergangenheit. Es gab viel an Berichterstattung und Aufklätung mit dem Ziel zu zeigen: Crystal ist wesentlich gefährlicher als Kokain, Speed oder Ecxtasy. In meinen Augen ist das eine ganz wichtige Botschaft. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird ab Januar ein Selbsthilfeportal schalten und hat den Auftrag gegeben für einen Aufklärungsfilm für Schüler. Ich selber bin im Dezember am BMG in Berlin und halte einen Vortrag. Dabei geht es auch um die Entwicklung von Leitlinien.
Solche gibt es auch zum Thema Alkohol.
Ist das für Suchtmediziner nicht immer noch das eigentliche Problem?
Korrekt, unser Hauptproblem in der Therapie ist und bleibt der Alkohol. Da geht es auch um das Konsumverhalten von Eltern in ihrer Funktion als Vorbild für ihre Kinder. Die Droge Alkohol gilt noch immer als gesellschaftsfähig. Ein Anfang wäre, wenn beim Oktoberfest das erste Bier, das angezapft wird, ein alkoholfreies ist. Das wäre ein symbolischer Akt, natürlich, aber Symbole wirken oft mehr, als man annimmt.