Freischießen-Kinderumzug nach dem Krieg: Ein Traum aus Bettlaken
Autor: Marco Meißner
Kronach, Montag, 13. August 2018
Hannelore Wind erinnert sich daran, wie viel der Kinderfestzug den Kleinen nach dem Krieg bedeutete.
Ein Schmunzeln huscht über Hannelore Winds Gesicht, als sie den Ordner auf ihrem Tisch durchblättert. Darin hat sie die Geschichten ihrer Kindheit abgeheftet. Die 81-Jährige zieht ein Foto heraus und schaut auf Kinder, die in historisch anmutenden Kleidern zu sehen sind. "Das da bin ich." Sie zeigt auf ein Mädchen im Reifrock am linken Bildrand, das sich unsagbar auf den Kinderfestzug zum Freischießen freut.
Lange ist es her. Es war kurz nach dem Krieg. Damals ein solches Kleidchen zu bekommen, war eine schwere Aufgabe. Es fehlte den Menschen ja an so vielem. Der beschwerliche Weg zu diesem Kleid ist aber nur eine Anekdote, an die sich die in Kronach geborene und heute in Marktrodach lebende Hannelore Wind erinnert, welche die Kronacher wohl besser unter ihrem Mädchennamen "Lilo" Heim kennen.
"Nach dem Krieg war es ein besonderes Ereignis", blickt sie auf die Kinderfestzüge zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts zurück. Viele Kinder folgten dem Aufruf zum Mitmachen. "Es wurde gebastelt, gemalt, genäht und geschreinert - fast in jedem Haus." Viele Bürger haben mit angepackt. Die Bauern haben ihr Vieh und ihre Kutschen und Leiterwagen zur Verfügung gestellt. "Als meine Schwester Helga und ich das erste Mal nach 1945 wieder mitmachten, war es natürlich für unsere Mutter und Großmutter ein Bestreben, das zu organisieren", erinnert sich Hannelore Wind. Die Mädchen wollten in einer Rokoko- und Biedermeier-Gruppe durch die Stadt ziehen. "Aber woher die Kostüme nehmen?" Das Geld fehlte den Menschen damals ebenso wie die Waren. "Hier half uns Frau Fanny Köhler, die am Fuß des Kreuzbergs wohnte", erzählt Hannelore Wind. Ihre Mutter, Elsa Heim, nähte dann mit der Hilfe der "Stubenvoll-Fanny" ein stilvolles Rokoko-Kostüm.
Aus weißem Betttuch wurde ein Unterrock genäht und mit langen Bändern versehen. Eine blonde Perücke lieh man sich beim Friseur Dauer. Nur ein Reifen für den Reifrock war nicht aufzutreiben.
"Durch Zufall kamen wir eines Tages in das Textil- und Kurzwarengeschäft Jungkuntz, das zur damaligen Zeit in der Oberen Stadt zu finden war", berichtet die 81-Jährige. "Ich hatte ganz verweinte Augen, so schlimm, dass die alte Frau Jungkuntz fragte: ,Klana, warum greinst denn?‘"
Eine unerwartete Helferin
Als sie die Geschichte vom Reifrock gehört hatte, strahlte die Geschäftsfrau übers ganze Gesicht. "No, wart ne. Do ko ich euch helf", sagte sie und ging hoch ins Lager. Zurück kam sie mit einem dreifarbigen Bollerreifen ihrer Tochter. Mit dem Spielzeug, das die Kronacher Kinder sonst an vielen Tagen mit einem kleinen Stöckchen durch die Straßen trieben, wurde der Reifrock komplettiert. Hannelore Wind könnte noch heute vor Stolz platzen. "Alles passte, an den Füßen meine Lackbeichtschuhe, die Samtbänder, um die Beine gewickelt, das Kostüm, der Reifrock, die Perücke, schick geschminkt - selbst der kleine schwarze Punkt auf der Wange fehlte nicht. An meinem Arm hing ein wunderschönes Täschchen, ein Pompadour." Sogar einen stilechten Rosenkavalier hatte sie an ihrer Seite.
Als dann der Festzug startete, wurde es noch mal brenzlig. An Tausenden Menschen durften die Kinder vorbeiflanieren - bei sengender Hitze in voller Kostümierung. Ob das gutgehen wird? "Ich hab' es überstanden und durchgehalten", erinnert sich die 81-Jährige. "Ich glaub', ich wäre lieber gestorben, als an diesem Tag keine Rokokodame mehr zu sein."
Auf dem Heimweg wartete dann noch ein alljährliches Ritual auf die Kinder von Frau Heim. Die Mutter ging beim Nepomukbrücklein die drei kleinen Treppen zum Mühlbach hinunter. Sie kniete sich hin und schwenkte den Geldbeutel durch das wenige Wasser des Mühlbachs. "So", rief sie, "Geldbeutelwäsche. Aus, Schluss, vorbei mit der Schützenfestgaudi - bis zum nächsten Jahr!" Und da waren ihre Kinder natürlich wieder mit dabei.
Schutzengel sorgen für Schützenfestgeld
Hannelore Wind weiß heute noch, wie knapp das Geld fürs Freischießen in den Nachkriegsjahren bei den Kindern werden konnte. Die am 12. August 1937, dem Tag einer Bierprobe, geborene "Lilo" und ihre Schwester beschäftigten sich damals auch gerne mit dem Namenstagskalender ihrer "gut katholischen Oma". Und auf diesem Weg fanden sie einen ganz neuen Festtag, das "Schützengeldfest".
Geldspritze zum Fest
Als die Mädchen ihrer großen Verwandtschaft davon berichteten, schenkte ihnen jeder einen kleinen Geldbetrag fürs Freischießen. "So war das Schützenfestgeld gesichert", sagt Hannelore Wind heute mit einem schelmischen Lächeln über die Findigkeit, die ihre Schwester und sie an den Tag gelegt hatten. Doch die Mutter der beiden Geschwister musste damals feststellen, dass es mit den Lesekünsten der Zweitklässlerin noch nicht ganz so weit her war. Das vermeintliche "Schützengeldfest" auf dem Kalender entpuppte sich bei genauerem Hinsehen nämlich als das "Schutzengelfest".
Fest dauerhaft umgetauft
Die Heims trotzten allerdings dieser Angabe beharrlich. "Solange ich weiß, blieb es von diesem Tag an bei uns zu Hause beim ,Schützengeldfest‘", sagt die 81-Jährige.
Ihre Geschichten
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