Kitzingen In den USA gehört sie zu den bedeutendsten Lyrikerinnen, in Kitzingen kennt sie kaum jemand. Dabei ist Rosmarie Waldrop in der Stadt am Main aufgewachsen. Dort spielt auch ihr neuestes Werk „Pippins Tochters Taschentuch“.
Frage: Sie wurden 1935 in Kitzingen geboren, ihre Kindheit fiel mitten in die Kriegszeit. Welche Erinnerungen haben Sie an Kitzingen?Waldrop: Diese Frage bräuchte ein ganzes Buch als Antwort! Ich versuche seit einiger Zeit, solch ein Buch zu schreiben, aber ich habe noch nicht die richtige Form gefunden.
Nach dem Krieg kamen die US-Soldaten. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?Waldrop: Am Kriegsende war ich zehn Jahre alt. Es gab andere Uniformen auf den Straßen und die Schulspeisungen. Ich sah die ersten schwarzen Menschen. Meine Freunde erzählten von Schokolade und Kaugummi, die sie von den US-Soldaten bekommen hatten. Mein Bettelversuch war erfolglos und brachte mir nur die Empörung meiner älteren Schwestern ein.
Waldrop: Bestimmt. Die größte Veränderung bestand sicher darin, dass „unser Führer“ jetzt „der Verbrecher, der Massenmörder“ war. „Der Feind“ waren jetzt „die Amis“. Ich versuchte, zu verstehen. Das brauchte mehrere Jahre.
Verspürten Sie in dieser Zeit trotz all der Schwierigkeiten auch eine Art von Leichtigkeit?Waldrop: Nein. Natürlich hatten wir Teenager unseren Spaß, aber wir waren auch mit dem Horror der Nazizeit beschäftigt, worüber Schule und Eltern meist schwiegen. Meine Mutter nahm mir Ernst Wiecherts „Der Totenwald“ weg, das erste Buch, das ich über Konzentrationslager gefunden hatte. Meine Freunde und ich versuchten uns an der Idee festzuhalten, dass dieser Völkermord so schrecklich war, dass nichts dergleichen je wieder geschehen könnte. Das war naiv, aber es half uns.
Die USA galten damals für viele Menschen als Inbegriff der Freiheit. Wie haben Sie die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den USA in den letzten Jahrzehnten erlebt?Waldrop: Als Ernüchterung. Und als Aufgabe.
Und die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland?Waldrop: Die habe ich gar nicht erlebt. Aber mit Interesse beobachtet.
Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Heimatstadt?Waldrop: Nein. Meine Familie ist weggezogen. Franz Köhler schickt periodisch eine Einladung zum Klassentreffen, aber ich habe es nicht geschafft, zur vorgegebenen Zeit in Deutschland zu sein.
In Ihrem Buch mit dem Titel „Pippins Tochters Taschentuch“ warnt die Protagonistin Lucy schon zu Beginn: Dies sei keine schöne Geschichte. Was für eine Geschichte ist es dann?Waldrop: Wenn ich das mit einem Wort sagen könnte, dann hätte ich das Buch nicht schreiben müssen.
Der Kitzinger Stadtrat befasst sich jetzt – 76 Jahre nach Kriegsende – mit der NS-Vergangenheit seines ehemaligen Oberbürgermeisters Siegfried Wilke und erkennt ihm die Ehrenbürgerwürde ab. Es gibt Bürger, die meinen, man sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Was meinen Sie?Waldrop: Die Vergangenheit ruht nie. Sie formt unsere Gegenwart. Und wenn man sie verschweigt, schwärt sie unter der Oberfläche.