Unzählige Schuhe hat Wilson Kipketer verschlissen. Im Leben nach seiner Karriere möchte der dreimalige 800-Meter-Weltmeister die andere Seite des Sports kennenlernen und jedem Läufer den perfekten Schuh anbieten.
Das Wissen dafür eignet sich der gebürtige Kenianer mit dänischem Pass gerade bei Puma in Herzogenaurach an.
Mit 42 ist Wilson Kipketer ein ungewöhnlich alter Praktikant. Erst recht in einer Firma mit einem gefühlten Altersdurchschnitt wie in einer Berufsschule. Dennoch dürfte der gebürtige Kenianer, der zur Gesprächsrunde in der Puma-Kantine auf Laufschuhen hereinschwebt, einer der schnellsten Mitarbeiter sein.
Auch zehn Jahre nach seinem Karriere-Ende ist er davon zumindest so überzeugt, dass er sich zu einer Wette mit dem Vorstandsvorsitzenden des Sportunternehmens Bjørn Gulden einließ. "Ich schaffe die 800 Meter noch immer unter 1:50 Minute", behauptete Kipketer bei seiner Einstellung in Herzogenaurach, wo er vier Wochen im Team für die Region Europa, Mittlerer Osten und Afrika hospitiert.
Das Alter ist relativ
Bis 2018 muss der Sportmanagement-Student die Wette einlösen. Genug Zeit, um dafür zu trainieren, doch jünger wird Kipketer nicht. "Ich fühle mich alt", scherzt er, "aber was soll erst ein 60- oder 90-Jähriger sagen?", fragt der 42-Jährige, ohne eine Antwort zu erwarten. Zum Laufen komme er bei seinem Gastaufenthalt in Franken jedenfalls nicht. Nur Spaziergänge vom nahe gelegenen Hotel in sein Büro oder Treppensteigen statt Aufzugfahren stünden auf seinem Programm.
Als Kipketer drei Mal in Folge Weltmeister in seiner Parade-Disziplin wurde, war er Mitte 20. Sowohl 1995 in Göteborg (1:45,08 Minute) als auch '97 in Athen (1:43,38) und '99 in Sevilla (1:43,30) rannte er zu Gold. 1997 entschied er die Hallen-Weltmeisterschaft in Paris für sich. Bis 2010 hielt er mit einer Minute, 41 Sekunden und elf Hundertsteln den Weltrekord, in der Halle haben seine Bestzeiten über 800 und 1000 Meter bis heute Bestand, 2002 wurde er in München Europameister.
Europameister? Wilson Kipketer hat einen dänischen Pass - eine Geschichte, die eng damit verbunden ist, dass er nie Olympiasieger wurde: Im Dezember 1990 verließ er seine Heimat Kapsabet im Westen Kenias, um in den USA mit dem Laufen Geld zu verdienen. Als Sprungbrett sollte Dänemark dienen, wohin er durch ein Studenten-Austausch-Programm gelangte. "Dort ist es viel kälter und ich konnte die Sprache nicht", erinnert sich der damalige Elektrotechniker, der mittlerweile fließend dänisch spricht.
Doch Kipketer blieb, beantragte die Staatsbürgerschaft. Das Dilemma: In Dänemark gibt es die erst nach sieben Jahren Aufenthalt. Als die olympischen Spiele in Atlanta, im Land seiner Träume, stattfanden, war der Leichtathlet aber erst fünf Jahre im nordeuropäischen Land. Deshalb verweigerte ihm das internationale olympische Komitee das Startrecht. Ausgerechnet der Läufer, der im gesamten Jahr 1996 auf den 800 Metern ungeschlagen blieb, war also nicht bei Olympia dabei.
Vier Jahre später in Sydney versperrten ihm gleich zwei Hindernisse den Weg zu Gold. Zum einen wurde er von der Krankheit Malaria, die er sich bei einem Heimataufenthalt 1998 zugezogen hatte, zurückgeworfen. "Ich bin danach anders gelaufen", versucht Kipketer zu erklären, warum er 1999 trotzdem Weltmeister wurde. Zum anderen war da Nils Schumann. Der Deutsche verwies den dänischen Kenianer in Australien um sechs Hundertstel auf Rang 2, wofür sich Kipketer 2002 bei der EM in München revanchierte.
Auf der Zielgeraden abgefangen
Im Ursprungsland der olympischen Spiele ging Kipketer erneut als Favorit ins Rennen. 80 Meter vor der Ziellinie im Athener Stadion führte er, wurde aber noch vom Russen Juri Borsakowski und vom 2014 bei einem Verkehrsunfall gestorbenen Südafrikaner Mbulaeni Mulaudzi abgefangen. Ein Jahr später, 2005, beendete der inzwischen zweifache Vater seine Karriere. "Ich war nicht enttäuscht, als ich aufhörte", sagt Kipketer trotzdem, "denn ich kenne ja die Umstände, warum ich Olympia nicht gewonnen habe."
An den Schuhen lag es jedenfalls nicht. Seit 1998 wird Kipketer von Puma gesponsert. Über seine Kontakte bekam er die Stelle im Unternehmen, wo er nun der berühmteste und wohl auch schnellste Praktikant aller Zeiten ist. "Nach dem Karriere-Ende habe ich überlegt, was ich in meinem Leben noch machen will", erklärt der ab dem 12. Dezember 43-Jährige. Es wurde ein Master-Studium für Sportwirtschaft und -technologie in Lausanne, in dessen Rahmen ein Praktikum vorgesehen ist.
Auf Vermittlung des Marketing-Managers für den Bereich Running, Pascal Rolling, der als Entdecker Usain Bolts gilt, sammelt er nun in Herzogenaurach Erfahrung. "Ich will die Welt hinter dem Produkt kennenlernen und jedem Athleten den perfekten Laufschuh anbieten", erklärt Kipketer, der die Fußbekleidung neben Talent als einzigen Erfolgsfaktor betrachtet.
"Ich habe mich bei der Ernährung nie eingeschränkt", erzählt er beim Schlangestehen in der Betriebskantine. Auch von seinen Hobbys Fußball und Volleyball hat er sich trotz Verletzungsgefahr nie abbringen lassen. Warum er sich auf die 800 anstatt auf die 1000 Meter spezialisierte, daraus macht Kipketer keinen Hehl. "Man muss natürlich gucken, wie stark die jeweilige Konkurrenz ist", sagt er schmunzelnd.
Dass es nicht die 400 Meter ("Die waren mir zu kurz") und auch nicht die 1500 Meter ("Die waren mir zu lang") wurden, war ihm ohnehin klar. Doch bei Kenianern denkt man eigentlich an Langstreckenläufer wie Wilson Kipsang, der 2013 in Berlin einen mittlerweile gebrochenen Rekord im Marathon aufstellte. "Meine Schule war nur 500 Meter von zu Hause entfernt", erklärt Kipketer und räumt mit dem Klischee des afrikanischen Kindes auf, das jeden Tag zig Kilometer zur Schule laufen muss. Das Klischee des Praktikanten, der Akten sortiert und Kaffee kocht, erfüllt Wilson Kipketer sicher auch nicht.