Der Übersetzer Kurt Scharf spricht über die Macht und Ohnmacht der Dichter im Iran und über den literarischen Rang des Coburger Rückert-Preisträgers Esmail Kho'i.
Der Übersetzer Kurt Scharf gilt als ausgewiesener Kenner der Literatur wie der politischen Verhältnisse im Iran. In seiner Übersetzung liegt jetzt erstmals eine Auswahl von Gedichten des Coburger Rückert-Preisträgers Esmail Kho'i in deutscher Sprache vor.
infranken.de: Wie hat sich aus Ihrer Sicht der arabische Frühling im Iran ausgewirkt?Kurt Scharf: Der Zusammenhang zwischen Iran und den arabischen Ländern ist weniger eng, als wir uns das meist vorstellen. Iran hat mit dem Persischen eine ganz andere, nämlich eine indogermanische Sprache, während Arabisch zu den semitischen Sprachen gehört. Infolgedessen beeinflussen sich die Literaturen kaum direkt, sondern meist auf dem Umweg über das Englische. Die Mehrzahl der Iraner kann nicht arabisch lesen, und kaum ein Araber ist des Persischen mächtig. Hinzukommt, dass weitaus die meisten Araber Sunniten sind und über 90 Prozent der Iraner Schiiten. Dieser religiöse Unterschied trennt die Völker zusätzlich.
Was bedeutet das für die Rolle der Schriftsteller im Iran?Die iranische Mittelklasse hat zwar mit einem gewissen Neid auf den Sturz der Tyrannen in Tunesien und Libyen reagiert (bezeichnend ist das Wortspiel "Tunéss tunéss, Iran nátuness": Tunis hat es geschafft, Iran hat es nicht geschafft), aber eigentlich gab es keine direkte Kommunikation zwischen diesen Völkern. Die Rolle der iranischen Autoren ist also im Wesentlichen unverändert geblieben; sie sind ein wichtiger Teil des kritischen Gewissens der Nation. Aber viele haben das Land verlassen. Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen und der darauf folgenden verschärften Repression hat es eine neue Welle der Auswanderung von Schriftstellern gegeben. Außerdem hatten die Unruhen von 2009 in Iran, die Proteste gegen die Verfälschung der Wahlergebnisse einen ganz anderen Charakter als die Aufstände des arabischen Frühlings: Während letztere eher Wasser auf die Mühlen der Fundamentalisten gelenkt haben, war der Aufstand der Iraner ein Versuch, das Ergebnis der islamischen Revolution von 1979 zu korrigieren und die Fundamentalisten im Lande zurückzudrängen.
Wie wirkt sich das auf die iranische Literatur aus?Iranische Schriftsteller und Dichter reflektieren die politische Situation im Lande auf ihre Weise, oft sehr kritisch, aber um das wahrzunehmen, muss man zwischen den Zeilen zu lesen verstehen.
Denn die Zensur lässt kaum ein Buch ohne Eingriffe passieren, und neuerdings werden sogar Bücher verboten, die vor einigen Jahren in der vergleichsweise liberalen Ära von Chatami noch veröffentlicht werden durften. Aber die persische Literatur lebt vom Mut, dem Engagement und der Fantasie der iranischen Autoren.
Wie wirkt sich das auf die Rezeption iranischer Literatur in Deutschland aus?Erfreulicherweise gibt es neuerdings in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum mehrere Verlage, die es wagen, persische Literatur zu veröffentlichen, obwohl das ein wirtschaftliches Risiko bedeutet. Das mag eine Folge der politischen Ereignisse und des wachsenden Interesses am vorderen und mittleren Orient sein. Es nährt sich aber vor allem von der guten Qualität dieser Literatur.
Was erhoffen Sie sich von dem jetzt vorgelegten Lyrikband "Am Fenster der Erinnerung"?Das Buch präsentiert eine Auswahl von Versen eines der bedeutendsten persischen Dichter der Gegenwart, dessen Lyrik dem deutschen Leser bisher nur in Anthologien zugänglich war. Kho'i ist einerseits ein Erbe der großen Klassiker - wie des von Goethe und Rückert verehrten Hafis, andererseits schreibt er aber sowohl stilistisch als auch thematisch als Kind unserer Zeit. Seine Gedichte sprechen sowohl das Herz als auch den Verstand an.
Den deutschen Liebhaber von Lyrik erwartet hier ein wahres Lesevergnügen.
Was kann Lyrik bewirken in einer Welt voller kriegerischer Bedrohungen, in einer Welt, in der ein Staat wie der Iran zur Atommacht werden will?Gerade Dichter wie Kho'i haben die Feder auch immer als Schwert genutzt, das heißt sie haben mit ihren Werken an das Verantwortungsbewusstsein ihrer Leser appelliert und diese dazu angeregt, sich politisch zu engagieren. Auch sind gesellschaftliche Veränderungen in einer Diktatur ohne die Bereitschaft der Menschen, auf die Straße zu gehen, undenkbar; und dazu brauchen sie Ermutigung. Aber andererseits darf man von Lyrik nicht erwarten, dass sie in erster Linie politisch ist. Der deutsch-iranische Dichter Said hat das einmal sehr schön so ausgedrückt: Lyrik darf politisch sein, sie muss es aber nicht. Die wichtigste Aufgabe der Literatur besteht darin, Literatur zu sein. (Im Übrigen bestreitet die iranische Regierung ja, dass sie den Besitz von Atomwaffen anstrebt; und es ist auch keineswegs bewiesen, dass sie das tut.)
Wie übersetzt man Gedichte? Wo ist die Grenze zwischen Übersetzung und Nachdichtung?Man muss darauf achten, nicht nur den Inhalt, sondern auch die Musik der Verse ins Deutsche zu übertragen. Dazu gehört einerseits Respekt vor den im Original gewählten Formen und andererseits der Mut zu einer gewissen Freiheit.
Ich versuche die Bilder so an die deutsche Situation anzupassen, dass etwas in der Seele des deutschen Lesers zum Schwingen gebracht wird. Ob sie das dann Übersetzung oder Nachdichtung nennen, ist mehr eine Frage der Wortwahl als ein Unterschied in der Sache.
Wie ist das konkret im Falle der Lyrik von Esmail Kho'i?Ich versuche, seine Formprinzipien auf den deutschen Text zu übertragen. Wenn er die Reime frei über das Gedicht verteilt, setze ich sie nicht unbedingt an dieselbe Stelle, sondern nehme mir dieselbe Freiheit wie er. Wenn er dagegen klassische Formen verwendet, halte ich mich daran. Im Übrigen schreibt gerade Kho'i nicht nur iranische, sondern Weltliteratur. Seine Themen stammen nicht selten aus dem westlichen Kulturerbe. So hat er zum Beispiel ein großartiges Gedicht über Don Juan verfasst. Da fällt die Übertragung dann auch weniger schwer. Insofern bin ich zuversichtlich, dass auch der deutsche Leser ihn versteht und seine Freude am Werk dieses Empfängers des Coburger Rückert-Preises hat.
Die Fragen stellte unser Redaktionsmitglied Jochen Berger.
Der Coburger Rückert-Preis als Beitrag zur Völkerverständigung Kurt Scharf war Jury-Mitglied bei der Verleihung des 2. Coburger Rückert-Preises 2010.
Nach einem Studium der Rechtswissenschaften tritt Kurt Scharf seit 1981 als Übersetzer und Herausgeber von Lyrik und erzählender Prosa aus dem Persischen, Portugiesischen und Spanischen hervor. Organisator und Moderator mehrerer Übersetzerworkshops für Spanisch und Portugiesisch. Jurymitglied bei Wettbewerben zur Vergabe von Literatur- und Übersetzerstipendien und -preisen.
Esmail Kho'i gilt als eine der herausragenden Stimmen der zeitgenössischen persischen Dichtung im Exil. 1938 in Maschhad geboren, lebt er seit 1983 im Exil in London. Er verbindet sozialpolitisches Engagement, zärtliche Liebeslyrik und eine differenzierte Bildersprache. Um die Zensur im Iran zu unterlaufen, ersann er bereits in der Zeit der Monarchie eine eigene Symbolsprache.
Buch-Tipp Esmail Kho'i "Am Fenster der Erinnerung", Übersetzer: Kurt Scharf, 2012, Verlag Hans Schiler, Broschur, 154 Seiten, 18 Euro
Coburger Rückert-Preis Seit 2008 verleiht die Stadt Coburg den mit 7500 Euro dotierten Rückert-Preis in Erinnerung an den Orientalisten, Dichter, Übersetzer und Sprachforscher Friedrich Rückert, der 1820 bis 1866 in Coburg gelebt und gearbeitet hat. Der Preis will ganz nach dem Motto Rückerts "Weltpoesie ist Weltversöhnung" einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten. Rückert hat sich mit 44 Sprachen befasst, wobei die des Nahen und Mittleren Ostens den Schwerpunkt seiner Arbeit bildeten.
Während 2008 die arabische Literatur im Fokus stand und mit Alaa-al-Aswani ein ägyptischer Romancier geehrt wurde, ging die Auszeichnung 2010 mit dem iranischen Lyriker Esmail Kho'i an einen Schriftsteller aus dem persischen Sprachraum.
Dritte Verleihung Der Preis wird im Jahr 2013 zum 225. Geburtstag Rückerts das dritten Mal verliehen. Aus aktuellem Anlass wurde als Preisregion "Literatur nach dem arabischen Frühling" ausgewählt.