Spannend wie eine griechische Tragödie: So will Regisseur Michael Götz "Waisen" von Dennis Kelly als Coburger Erstaufführung auf die Bühne der Reithalle bringen. Was ihn an diesem Schauspiel des 1968 geborenen britischen Autors fasziniert, verrät der Regisseur im Gespräch.
Wie lässt sich Kellys "Waisen" beschreiben?Michael Götz: Das ist ein Krimi, einfach ein tolles Stück, das eine große Eigendynamik entwickelt. Es beginnt mit dem Abendessen eines Pärchens - Helen und Danny. Dann geht die Tür auf und Helens Bruder kommt herein - total blutüberströmt. Man denkt erst einmal, ihm sei etwas passiert. Stück für Stück stellt sich dann aber heraus, dass er vielleicht doch eine schlimme Tat begangen haben könnte.
Worum geht es?Am Anfang habe ich gedacht, es sei ein Stück über Fremdenhass. Das ist auch ein Thema. Aber es ist nicht das Hauptthema. Denn es stellt sich Stück für Stück heraus, dass es doch auch um etwas anderes geht. Eigentlich geht es um den Widerstreit zweier Systeme - um das kleine System Familie und das große System Gesellschaft.
Das Tolle an diesem Stück ist: Man findet keine Lösung. Es ist konkret und abstrakt zugleich.
Dabei wirft das Stück sofort die ganz großen Fragen auf. Das habe ich bei einem Stück der neueren Dramatik so noch nicht erlebt. Letztlich geht es um das große Thema Schuld. Was macht man, wenn jemand, der einem nahe steht, Schuld auf sich lädt? Was macht man, wenn ein Familienmitglied zum Monster wird? Das begegnet einem ja auch in Coburg, wenn man betrachtet, was in einer so kleinen, friedlichen Stadt alles passieren kann. Es ist spannend, der Frage nachzugehen, welche Mechanismen dabei greifen.
Wie ist der formale Aufbau?Das Stück ist eigentlich gebaut wie eine griechische Tragödie mit der konsequenten Einheit von Ort und Zeit und Handlung. Es gibt auch keinen Szenenwechsel.
Wie sieht das Ausstattungskonzept aus?Wir haben uns für konsequente Purheit entschieden. Das ist natürlich auch gefährlich, weil man nichts hat, um sich festzuhalten. Es gibt eigentlich nichts auf der Bühne. Das liegt nicht daran, dass wir sparen müssten. Die Schauspieler sollen im Vordergrund stehen. Holzplatten als Boden, ein Tisch und zwei Stühle - mehr brauchen wir nicht. Es geht um eine Situation, in der man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Wie die Situation entgleitet, so entgleitet im Grunde auch der Raum. Es löst sich alles auf.
Wie würden Sie die Sprache dieses Stücks charakterisieren?Es ist Musik. Das funktioniert wie ein Streichquartett. Deshalb gibt es erstmals bei einer Inszenierung von mir keine Musik während der einzelnen Szenen. Der Text macht die Musik.
Das ist natürlich für die Schauspieler "schrecklich", weil ich an jedem Komma arbeite - und andererseits ist das natürlich auch wieder toll, weil es total Spaß macht. Allein vom Textbild her sieht man, wie der Rhythmus funktioniert. Von der ersten Leseprobe an weiß man, wie das Tempo sein muss in den einzelnen Szenen. Man sieht es dem Stück an: Das ist eigentlich wie eine Partitur geschrieben. Das ging nicht nur mir so, sondern auch den Schauspielern.
Dennis Kelly sagt: "Ich glaube wirklich aufrichtig, dass Theater die Welt verändern kann." Wie sehen Sie das?Ich glaub's nicht. Ich glaube, dass wir Denkanstöße geben können. Was Theater kann, ist, eine Geschichte so zu erzählen, dass der Zuschauer nicht anders kann, als sich damit auseinander zu setzen. Unser Vorteil gegenüber dem Film ist dabei die Interaktion mit dem Publikum.
Der Autor und sein Regisseur Premieren-Tipp "Waisen" -
Schauspiel von Dennis Kelly, Samstag, 2. Februar, 20 Uhr, Theater in der Reithalle
Vorstellungen 7., 16., 17. Februar, .8., 9., 10. März, 20 Uhr
Produktionsteam Inszenierung: Michael Götz; Bühnenbild und Kostüme: Josef Frommwieser; Dramaturgie: Georg Mellert
Darsteller Helen: Philippine Pachl; Danny: Frederik Leberle; Liam: Sönke Schnitzer; Shane: Louis Gemmer/Paul Sagasser
Dennis Kelly, geboren 1968 in London, studierte Drama und Theater am Londoner Goldsmiths College. Sein Stück "Schutt" entstand 2002 im Rahmen des National Theatre Studio Programms für junge Autoren.
Uraufgeführt wurde es im April 2003 in London; die deutschsprachige Erstaufführung war im März 2004 am Burgtheater (Vestibül) Wien. Gefolgt wurde "Schutt" von "Osama, der Held" und "Nach dem Ende", die beide 2005 uraufgeführt wurden. Die deutschsprachige Erstaufführung von "Nach dem Ende", für das Dennis Kelly den Meyer-Whitworth Award 2006 erhielt, fand im September 2007 am Deutschen Theater Berlin statt. Im Jahr 2009 wurde Dennis Kelly in der Kritikerumfrage von "Theater heute" zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres gewählt.
Michael Götz ist seit der Saison 2009/2010 Regieassistent am Landestheater Coburg. 1982 in Würzburg geboren, studierte er nach Hospitanzen in der Musikdramaturgie und im Regiefach an der Akademie der Darstellenden Kunst in Ulm. Er absolvierte zunächst ein Jahr Schauspiel-Grundausbildung und konzentrierte sich dann auf das Fach Regie. Als Regieassistent war er zwei Jahre am Staatstheater Wiesbaden und am Berliner Ensemble engagiert. Bereits mehrfach hat sich Götz erfolgreich auch als Regisseur am Landestheater vorgestellt.