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Russlanddeutsche leben zwischen zwei Welten


Autor: Ulrike Müller

Bad Brückenau, Dienstag, 29. Januar 2013

In den 1990er Jahren kamen hunderte Russlanddeutsche nach Bad Brückenau. Einige sind weitergezogen. Viele sind geblieben. Aus dem Stadtbild sind sie nicht mehr wegzudenken. Trotzdem machen sie sich gerne unsichtbar. Warum eigentlich? Ein Besuch bei Familie Safronov.
Seit 1995 in Deutschland: Familie Safronov. Foto: Ulrike Müller


7000 Kilometer sind es bis in die alte Heimat. Alexander Safronov hat seine Geburtsstadt seit 1995 nicht mehr gesehen. Und fragt man seine Kinder über die Herkunft des Vaters aus, so herrscht Ratlosigkeit: "Als Papa klein war, gab es kein Fernsehen oder Computer. Er hat immer draußen gespielt", erzählt Tim, der mittlere der drei Söhne von Familie Safronov. Eine konkrete Vorstellung von der 475.000-Einwohner-Stadt Karaganda, die sein Vater "Heimat" nennt, hat er nicht. Und wie sollte er auch: Tim (14) und sein jüngerer Bruder Anton (9) sind beide in Deutschland geboren. Nur der älteste Sohn, Oleg (19), kam in Kasachstan zur Welt.

Ausreise war eine Familienentscheidung

"Meine Eltern haben in Kasachstan eigentlich alles gehabt: Arbeit, Freizeit, Freunde", erzählt Safronov.

Aber ein Teil der Familie war schon nach Deutschland übergesiedelt und einer seiner Brüder, der noch in Kasachstan war, wurde schwer krank. Leukämie. "Meine Oma hat ihn nach Deutschland geholt, aber es war schon zu spät. Er ist dann hier gestorben." Und begraben. Da beschlossen seine Eltern, auch wegzugehen.

Safronovs Vater - halb Russe, halb Ukrainer - wollte eigentlich nicht nach Deutschland. "Aber mit dem Gedanken, dass es den Kindern dann besser geht, hat er es dann gemacht." Genauso wie Safronov selbst. Zuletzt waren noch drei Familien in Karaganda übrig geblieben. "Wir haben dann gemeinsam entschieden, dass wir auch nach Deutschland gehen."

Im Jahr 1995 brach Familie Safronov also in die neue Heimat auf. Sie waren nicht die einzigen Neuankömmlinge. Rund tausend Russlanddeutsche haben sich bis Mitte der Neunziger in Bad Brückenau angesiedelt. "Ich bin ganz glücklich, dass wir die Russlanddeutschen haben", sagt Bürgermeisterin Brigitte Meyerdierks (CSU) und lässt offen, wo die Stadt heute stehen würde, wenn nicht so viele neue Bürger gekommen wären. Im Jahr 2003 war mit 1534 Einwohnern russlanddeutscher Herkunft der Höchststand erreicht. "Eine Zeit lang haben wir alle Russlanddeutschen erfasst, um den Überblick zu behalten", erklärt Hans Bauer, Leiter des Standesamtes Bad Brückenau. Mittlerweile sei das aber nicht mehr nötig, deshalb hört die Erfassung im Jahr 2010 auch auf. Aktuell leben 862 Menschen im Stadtgebiet, die neben der deutschen noch eine weitere Staatsangehörigkeit haben.

Liebe auf den ersten Blick

Zurück bei Familie Safronov. Das Paar erzählt, wie es sich kennengelernt hat. Eine rasante Liebesgeschichte. "Wie sagt man in Deutschland?", fragt Safronov. "Blickliebe?" So muss es gewesen sein. Es war im August 1992. Sie arbeitete als Verputzerin in St. Petersburg, er diente bei der Armee. Ihre Begegnung war ein Zufall, aber vier Monate später standen sie vor dem Traualtar. Wie es in Kasachstan üblich ist, besuchte das Brautpaar an seinem Hochzeitstag nicht nur das Standesamt, sondern auch ein Denkmal für gefallene Soldaten.

Und noch etwas ist in der Tradition verankert: Dass sie zu ihm zieht und auf allen seinen Wegen mitgeht. Sogar bis nach Deutschland. "Ich bin ja sowieso weg von meiner Familie, ob nun in Kasachstan oder in Deutschland", sagt Oxana. Alle drei bis vier Jahre kann sie ihre Familie in Russland besuchen. Zwischendurch kommt auch mal ihre Mutter.

"Mit 20 ist alles leicht", sagt sie und lacht über die schnelle Hochzeit mit dem Mann, den sie als Deutschen kannte, den in Deutschland aber viele nur als Russen behandeln. "Für mich war klar, ich heirate einen Deutschen." Ihr erster Besuch im "deutschen Dorf", einem Vorort von St. Karaganda, ist ihr noch gut in Erinnerung geblieben. "Der Ort war so gepflegt, so deutsch", versucht sie eine Beschreibung. Ihr Mann hilft ihr: "Jedes Haus hatte etwas Besonderes - so wie hier auch - zum Beispiel eine seltene Pflanze im Garten, einen schönen Vorgarten oder alte Wagenräder an der Wand."

Jedes Wort einzeln aufgeschrieben

Als Kind war Safronov oft bei seinen Großeltern. Gern erinnert er sich an die Oma und ihre 'Krebl'. Für seine Frau war diese russlanddeutsche Spezialität völlig unbekannt. Und auch die Sprache war ihr fremd. "Seine Uroma hat nur deutsch gesprochen, seine Oma mehr deutsch als russisch und seine Mutter mehr russisch", erzählt sie. Ihre eigenen Kinder wiederum sprechen besser deutsch als die Eltern. "Und in der Familie reden wir Misch-Masch", lacht Safronov.

Der Anfang in Deutschland war nicht leicht. Trotz seiner russlanddeutschen Herkunft verstand Safronov nicht viel. Manchmal dachte er, er sei vielleicht unerwünscht. "Aber dann hab ich mir gesagt: Wenn ich hier was erreichen will, muss ich deutsch lernen." Und er fing an, jedes Wort einzeln aufzuschreiben. "So konnte ich es mir besser merken." Drei bis vier Jahre hat es gedauert, bis Safronov zurecht kam. Zunächst hangelte sich der gelernte Dreher von einem Job zum nächsten. Bis heute schreibt er jedes Jahr eine Bewerbung an GKN. Seit 2006 fährt er Lkw für eine Ingolstädter Speditition. Viel Freizeit bleibt da nicht. Aber es reicht, um sich im Aufsichtsrat der Baugenossenschaft zu engagieren, in dem er seit November Mitglied ist.

Angekommen, aber nicht zuhause

Alles in allem geht es Familie Safronov gut. Sie sind in Deutschland angekommen. Eines versteht Safronov jedoch nicht: "Manchmal, wenn ich meine Landsleute auf russisch grüße, antworten sie auf deutsch." Wer hier lebe, müsse auch deutsch sprechen, bekomme er dann zu hören. Und grundsätzlich findet Safronov das ja auch, nur "es ist doch nicht schlimm, wenn man zwei Sprachen spricht." Er wolle auch, dass seine Kinder beide Sprachen können. "Und das tun sie ja auch", sagt Safronov nicht ohne Stolz in der Stimme.

"Wir haben uns vorgestellt, dass es hier ein besseres Leben gibt", sagt Safronov nachdenklich. Materiell stimme das zwar - obwohl es vielen Bekannten in der Heimat längst ähnlich gut gehe. Oder sogar besser. "Aber für die Seele", setzt Safronov an. Seine Seele habe noch Heimweh, dabei lebe er jetzt schon fast die Hälfte seines Lebens in Deutschland. Und er ist verunsichert, denn Bekannte, die tatsächlich noch einmal zurückgefahren sind, erzählen alle dasselbe: "Es ist nichts mehr, wie es früher war." Und wenn sie ihm Bilder zeigen, erkennt er die Straßen nicht wieder, in denen er früher gewohnt hat. Doch seine Kinder werden kein Heimweh haben. Damit tröstet er sich in stillen Stunden. So wie sein Vater.