Ähnlich hört sich das jetzt bei Kanzler und Vizekanzler an. «Hören wir doch mal auf, so larmoyant und so wehleidig zu sein in diesem Land», sagte Merz schon vor ein paar Tagen in einer Rede bei der Mittelstandsunion. Klingbeil forderte kürzlich bei einem Besuch in seinem niedersächsischen Wahlkreis: «Wir reden uns selbst manchmal so klein. (...) Und die AfD reitet ja diese schlechte Laune. Die AfD lebt von dieser Polarisierung und davon, dass die Leute unzufrieden sind.» In allen Umfragen haben Union und SPD aktuell keine Mehrheit mehr, und die AfD hat die Union teilweise schon als stärkste Partei abgelöst.
Erste Ruck-Rede vor 28 Jahren
Aber wie legt man den Hebel um? Vor 28 Jahren forderte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen. «Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen, vor allen Dingen von den geistigen, von den Schubläden und Kästchen, in die wir gleich alles legen», forderte er.
Bis zu einer weitreichenden Reformagenda der rot-grünen Regierung vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) dauerte es danach noch sechs Jahre. Heute wird viel darüber geredet, ob die von Schwarz-Rot geforderten Reformen ähnlich weit gehen sollen wie Schröders Agenda 2010.
Regierung arbeitet an Teamgeist
Für die Koalition geht es bei dieser zweitägigen Klausur auch darum, erst einmal die Stimmung im eigenen Laden zu verbessern. Nach einem holprigen Start mit einer Kanzlerwahl erst im zweiten Anlauf, einer verpatzten Richterwahl und viel Streit in der Sache arbeitet die Koalition seit der Sommerpause an einem neuen Teamgeist.
Eine Klausurtagung der Fraktionsvorstände von Union und SPD in Würzburg machte im August den Anfang. Es folgten eine gemeinsame Reise der Fraktionschefs nach Kiew, ein Grillabend der Koalitionsabgeordneten in Berlin und zuletzt ein Besuch der Parteivorsitzenden auf dem Oktoberfest in München.
Nun also die Kabinettsklausur in der Villa am Tegeler See, bei der es möglichst entspannt zugehen soll. Der Kanzler signalisierte das bei seiner Ankunft mit einem für ihn sehr ungewöhnlichen Outfit: Hellgrauer Anzug, keine Krawatte. Das dürfte selbst Vizekanzler Lars Klingbeil irritiert haben, der erst mit Eintritt in die Bundesregierung zum Krawattenträger geworden ist – und bei der Klausur dabei blieb. Beim Familienfoto am Mittag hatte dann auch der Kanzler wieder eine Krawatte an.
Industriellen-Villa statt Barock-Schloss
Auch die Wahl des Tagungsorts ist ein Statement. Die Ampel-Regierung hatte sich für ihre Kabinettsklausuren ins Schloss Meseberg 70 Kilometer nördlich von Berlin zurückgezogen. In dem Gästehaus der Bundesregierung haben sich Scholz, Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) mehrfach geschworen, nicht mehr so viel zu streiten – und dann hat es doch wieder nicht geklappt.
Vielleicht hat dieser ungute «Geist von Meseberg» dafür gesorgt, dass das schwarz-rote Kabinett lieber in Berlin bleibt. Eine ehemalige Industriellen-Villa passt außerdem besser zu der «schnörkellosen Arbeitskoalition», die Merz einmal ausgerufen hat, als ein Barock-Schloss auf dem Land.
Beschlüsse erst an Tag zwei
Beschlüsse soll es erst am zweiten Tag der Klausur geben. Dann wird das Kabinett eine Modernisierungsagenda für Staat und Verwaltung auf den Weg bringen, die zu einer Senkung der Bürokratiekosten um 25 Prozent oder 16 Milliarden Euro führen soll.