"Schreib dir das hinter die Ohren!" Dieser klassische Satz der schwarzen Pädagogik kommt zwar nicht wörtlich in Klaas Huizings Stück "In Schrebers Garten" vor, aber er bringt sehr genau auf den Punkt, warum aus dem Kleingarten von Dr. Moritz Schreber, berühmter Pädagoge und Orthopäde, seltsame Blumen erwachsen mussten. Beispielsweise Sohn Paul, der es als Richter immerhin zum Senatspräsidenten brachte, aber aus seiner Männer-Rolle so gründlich ausstieg, dass darob unter anderem Sigmund Freud Hören und Sehen verging.

Mit Daniel Paul Schreber (1842-1911) und seinen 1903 veröffentlichten Aufzeichnungen "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" beschäftigte sich nicht nur der Begründer der Psychoanalyse intensiv. Freud führte Schrebers Wahnvorstellungen auf dessen verdrängte Homosexualität zurück. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannten Wissenschaftler in Schrebers Psychose auch eine gesellschaftlich bedingte Selbstentfremdung.

Ein Prototyp der späten Moderne
Für Klaas Huizing, Ordinarius am Lehrstuhl für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Universität Würzburg, erfolgreicher Autor und Villa-Concordia-Stipendiat des Jahrgangs 2003/04, ist der überspannte Schreber der Prototyp der späten Moderne, der sich "nicht verbiegen lässt und die Frage, was gesund und krank ist, auf eine ganz neue Weise stellt". Fußend auf seinem 2008 erschienenen Roman "In Schrebers Garten" verfasste Huizing ein Theaterstück, das bis Mitte April am Mainfrankentheater und im Mai in derselben Besetzung am Staatstheater Saarbrücken zu erleben ist.

Die Würzburger Inszenierung ist ein Musterbeispiel dafür, dass Uraufführungen sich nicht zwangsläufig brav am Text entlanghangeln müssen. Im Gegenteil. Regisseur Bernhard Stengele hat couragiert und dramaturgisch geschickt eingegriffen, er und Ausstatterin Gesine Pitzer schlagen immer wieder Funken aus der Vorlage, die vom Blatt gespielt vermutlich nur halb so wirksam wäre.

Einfallsreiche Szeniker
Dem Inszenierungsteam und den elf souveränen Mitwirkenden gelingt nicht nur das Kunststück, die im Stück und teilweise selbst in der Vorlage gegebene Verdrängung deutlich sicht- und erfahrbar zu machen. Sondern durch die auch szenisch beeindruckend gelöste Beteiligung zweier Musikerinnen wird möglich, dass das Publikum eben nicht nur auf der Sprachebene hören kann, wie und warum die Wahrnehmung von Norm und Wahn zuweilen Kopfstand macht.

Schon bevor das Stück anhebt, werden auf der Bühne Leibesübungen absolviert, akkurat nach Anweisung. Der in Theorie und Praxis volksgesunde Vater Schreber braucht keine Schläge mehr, um die Seinigen auf Vordermann zu bringen: Er spricht so abgehackt, zerteilt wichtige Worte bis zur (Un-)Kenntlichkeit in ihre Bestandteile, dass es der monströsen mechanischen Kinn- und Geradhalter kaum noch bedarf. Äußerlich stehen in dieser Familie sowieso alle kerzengerade, innerlich sieht es natürlich anders aus.

Vom Wattestäbchen bis zum Phallus
Die Bühne mit den durchnummerierten und markierten grünen Spielflächen wird dominiert von zwei Hochsitzen, deren Verstrebungen sportlich als Sprossenwand genutzt werden und auf denen links ein Klavier und rechts ein Cello thront. Dazwischen hängen ein paar riesige Gebilde, die man wahlweise als Wattestäbchen, Streichholzkopf, Schlagstock, Knochen und Phallus sehen kann.

Alle, die zur Familie gehören - die kahlen Musikerinnen mit den abgebundenen Brüsten inklusive -, sind weiß gekleidet, teils aus verräterisch durchsichtigen Stoffen. Wer von außen dazu kommt - ob real oder als paranoide Traumfigur -, bleibt von derlei Transparenz eher verschont. Was für ein Lichtblick ist doch Sabine, wenn sie zuerst auf ihren Zukünftigen Paul trifft: in pastellfarbenem Gelb und einer wunderbar komischen Stummfilmszene, wie sie so eben nicht im Textbuch steht.

Sprung über unsichtbare Hürden
Pauls Verwandlung geschieht schrittweise und beginnt just da, wo sich sein großer Bruder Gustav die Anweisungen des Vaters tatsächlich hinter die Ohren schreibt. Nein, Paul schafft es einfach nicht, so zu sein, dass es dem omnipotenten Vater recht ist. Während Gustav so gut funktioniert, dass er auch die unsichtbaren Hürden scheinbar mit links nimmt und es beim Onanieren fertigbringt, den Bruder genau dessen zu bezichtigen, bleibt Paul mit seiner sexuellen Angst zunächst mutterseelenallein.

Der Tod von Bruder und Vaters, der Abgang des Wunschkinds mit Sabine machen Paul Schritt für Schritt so aggressiv, dass seine späte Flucht in eine andere Haut, in eine andere Welt fast logisch erscheint. Christian Taubenheim absolviert diesen schauspielerischen Ritt auf der Rasierklinge mit Bravour. Ihm gelingt das schier Unmögliche, nämlich, dass der Zuschauer trotz all der Bedrängnisse und wunderlichen Anwandlungen entdeckt, wieviel Rückgrat, wieviel Poesie und wieviel Liebe gerade in dieser Figur steckt.


Termine und Karten
Weitere Vorstellungen am 26.2., 1., 6., 25. und 27.3., 6., 13. und 16.4. jeweils um 19.30 Uhr, am 13. und 20.3. jeweils um 15 Uhr. Karten gibt es unter Telefon 0931/3908-124.