Update vom 01.02.2023, 7.40 Uhr: Über 20 NRW-Ermittlungsverfahren gegen Brokstedt-Verdächtigen
Die kriminelle Vorgeschichte des mutmaßlichen Täters von Brokstedt war offenbar noch umfangreicher als bisher gedacht. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bonn bestätigte am Dienstag, dass gegen den Mann in Nordrhein-Westfalen mehr als 20 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien.
Die meisten davon hätten allerdings eher kleinere Delikte betroffen und seien eingestellt worden. Schwere Tatvorwürfe waren demnach zum einen eine gefährliche Körperverletzung - hier sollte er einen Mann mit einer Kette geschlagen haben - und ein Verdacht auf Vergewaltigung. Aber auch diese beiden Verfahren seien eingestellt worden. Rechtskräftig verurteilt wurde der Mann in NRW demnach in drei Fällen. Der Spiegel hatte berichtet.
Der 33-Jährige soll am Mittwoch vergangener Woche in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg mit einem Messer auf Fahrgäste eingestochen haben. Eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger starben, fünf Menschen wurden verletzt. Der Angreifer war schließlich von anderen Fahrgästen überwältigt und von der Polizei auf dem Bahnhof von Brokstedt festgenommen worden.
Bereits bekannt gewesen war, dass der Heiligabend 2014 nach Deutschland gekommene staatenlose Palästinenser von Januar 2015 bis Ende 2020 in NRW gemeldet gewesen war und in dieser Zeit mehrfach durch Straftaten auffällig geworden war. Laut Sicherheitskreisen ging es unter anderem um Verfahren wegen Bedrohung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Ladendiebstahls und sexueller Belästigung.
Update vom 31.01.2023, 7.40 Uhr: Opfer noch nicht aus Krankenhäusern entlassen
Nach dem tödlichen Messerangriff in einem Regionalzug im schleswig-holsteinischen Brokstedt sind am Montag drei Verletzte noch in Krankenhäusern behandelt worden. Der Zustand eines 62-Jährigen und einer 54-Jährigen aus Schleswig-Holstein sowie einer 27-Jährigen aus Hamburg sei derzeit stabil, berichtete die Polizei am Montag. Die drei Verletzten seien bei Bewusstsein. Zwei weitere, 22 Jahre alte Verletzte aus Schleswig-Holstein haben das Krankenhaus bereits verlassen.
Die Ermittler erfassen und befragen nach Polizeiangaben weiter Beteiligte und Zeugen der tödlichen Messerattacke. Mittlerweile seien nahezu 120 Menschen erfasst. Diese Zahl könne sich nach Abschluss der Befragungen noch ändern.
Am vergangenen Mittwoch (25. Januar) waren zwei Menschen in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg getötet worden, eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger. Fünf Menschen wurden verletzt. Gegen den mutmaßlichen Täter Ibrahim A. wurde Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Totschlags in vier Fällen erlassen. Erst wenige Tage vor der Tat im Zug war der 33 Jahre alte staatenloser Palästinenser in Hamburg aus Untersuchungshaft freigekommen. Ibrahim A. war zwar zu einem Jahr Haft verurteilt worden und saß auch ein Jahr in Haft. Da aber das Urteil nicht rechtskräftig war, galt die Zeit offiziell als Untersuchungs- und nicht als Strafhaft.
Update vom 27.01.2023, 21 Uhr: Täter war schon früher auffällig - Politik äußert Kritik
Die tödliche Messerattacke in einem Regionalzug im schleswig-holsteinischen Brokstedt und der Umgang der Behörden mit dem mutmaßlichen Täter haben ein parlamentarisches Nachspiel. Der Justizausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft wird sich in der kommenden Woche mit dem Fall befassen. In Düsseldorf soll der Rechtsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Das Motiv des Tatverdächtigen ist unterdessen weiter unklar.
Ibrahim A., ein 33 Jahre alter staatenloser Palästinenser, war in der Vergangenheit sowohl in NRW als auch in Hamburg mit Gewaltdelikten aufgefallen. Erst eine Woche vor der Bluttat im Regionalzug war er in Hamburg aus Untersuchungshaft freigekommen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte am Donnerstag diesbezüglich bereits Fragen aufgeworfen. Auch müsse geklärt werden, "warum Menschen, die so gewalttätig sind, noch hier in Deutschland sind", hatte sie bei einem Besuch in Brokstedt gesagt. Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) hat angekündigt, am kommenden Donnerstag im Justizausschuss zu den Hamburger Aspekten der Tat zu berichten.
Die Fraktionen von SPD und FDP in NRW betonen in ihrem Antrag für eine Sondersitzung des Rechtsausschusses am kommenden Dienstag, dass A. "ein justizbekannter Mehrfachstraftäter" sein soll, der in der Vergangenheit "insbesondere auch in Nordrhein-Westfalen bereits in erheblichem Maße auffällig geworden sein soll". Sie erwarten von der Landesregierung "einen umfassenden schriftlichen Bericht zu den Tatvorwürfen und den Strafverfahren, die gegen den mutmaßlichen Täter in der Vergangenheit in Nordrhein-Westfalen aktenkundig geworden sind".
Laut einer Auflistung der Deutschen Presse-Agentur wurden gegen A. seit seiner Einreise nach Deutschland 2014 mindestens elf Ermittlungsverfahren eingeleitet, darunter wegen Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahls und Drogendelikten. Viermal wurde er verurteilt, davon drei Mal rechtskräftig. Auch zuletzt hatte er wegen eines Messerangriffs in Hamburg ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen.
Zu den Vernehmungen des Tatverdächtigen wurden keine weiteren Einzelheiten bekannt. Schon am Donnerstag hatte sich A. nach Angaben von Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) nicht geäußert, so dass man keine Rückschlüsse auf sein Motiv habe ziehen können. Daran änderte sich - soweit bekannt - auch am Freitag nichts.
Der Verteidiger des Mannes schloss indes ein terroristisches Motiv seines Mandanten aus. "Ich gehe sicher davon aus, dass er kein politisches oder religiöses oder terroristisches Motiv in sich trägt", sagte Rechtsanwalt Björn Seelbach der Deutschen Presse-Agentur. Für möglich halte er hingegen, dass der 33-Jährige bei der Tat wütend und außer sich war. Er könne auch psychisch krank sein oder unter dem Einfluss von Drogen gestanden haben.
Unterdessen traf Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien am Freitag mit Schülern und Lehrern der Gewerblichen Schule der Stadt Neumünster zusammen, die auch die beiden Todesopfer aus dem Zug, eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger, besucht hatten. Dabei habe sie "ein allgemeines Gefühl der Angst und der Verunsicherung" wahrgenommen, sagte die CDU-Politikerin im Anschluss.
Sie habe sich aber davon überzeugen können, dass es an der Schule ein sehr gutes Kriseninterventionsteam gebe. Die gesamte Schulgemeinschaft, das gesamte Kollegium arbeitet nach Priens Angaben das Verbrechen gemeinsam mit der Klasse, in der die getötete Schülerin ging, und der Klasse des getöteten Jungen auf. "Aber auch die anderen Schülerinnen und Schüler sind natürlich betroffen davon, dass auf einer Bahnstrecke, die sie täglich benutzen, ein solches Verbrechen geschehen konnte." Da sei viel zu tun.
In der Kirche der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Brokstedt fand eine Andacht für die Opfer statt, zu der sich laut Beobachtern rund 500 Menschen in und vor der Kirche versammelten. Auch Schleswig-Holsteins stellvertretende Ministerpräsidentin und Finanzministerin Monika Heinold (Grüne), Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) und Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) kamen.
Update 27.01.2023, 7.20 Uhr: Tödliche Messerattacke in Regionalzug - massive Kritik an Behörden
Nach der Messerattacke mit zwei Toten in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein gibt es weiter offene Fragen zum Umgang der Behörden mit dem zuvor straffällig gewordenen Tatverdächtigen. Die Frage sei, ob die Bluttat, die ein 33-jähriger staatenloser Palästinenser begangen haben soll, hätte verhindert werden können, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Donnerstagabend in Brokstedt. Aufgeklärt werden müsse, "wie konnte es sein, dass ein solcher Täter noch hier im Land war".
Bei der Messerattacke im Zug von Kiel nach Hamburg waren am Mittwoch eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger getötet sowie fünf weitere Reisende teils schwer verletzt worden. Auf dem Bahnhof von Brokstedt wurde der Angreifer von der Polizei festgenommen, nachdem andere Fahrgäste ihn überwältigt hatten. Der 33-jährige Tatverdächtige war erst vor wenigen Tagen auf Beschluss des Landgerichts Hamburg aus der Justizvollzugsanstalt Billwerder entlassen worden, wo er wegen eines Gewaltdelikts in Untersuchungshaft saß. Seit seiner Einreise nach Deutschland 2014 war der Mann nach Angaben der Behörden mehrfach mit Gewaltdelikten auffällig geworden. Ein subsidiärer Schutzstatus verhinderte seine Abschiebung.
"Wie konnte das passieren, dass er trotz so vieler Vorstrafen nicht länger in einer Justizvollzugsanstalt war?", fragte Faeser, die mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) nach Brokstedt gekommen war. Nun müsse geklärt werden, wie es passieren konnte, "dass er so früh aus der Untersuchungshaft wieder entlassen wurde", sagte Faeser, und "warum Menschen, die so gewalttätig sind, noch hier in Deutschland sind".
Nach Angaben der Hamburger Justizbehörde war der Verdächtige wenige Tage vor der Attacke im Zug in der Justizvollzugsanstalt Billwerder psychiatrisch beurteilt worden. "Ein Psychiater hat kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt", sagte eine Sprecherin am Donnerstagabend. Deshalb habe es auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten.
Auf einen terroristischen Hintergrund der Tat gibt es laut Staatsanwaltschaft Itzehoe keine Hinweise. Nach Angaben von Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) erbrachte die Vernehmung des Mannes bisher auch noch keine Ergebnisse, sodass über dessen Motive nichts gesagt werden könne. Sie warnte deshalb vor zu schnellen politischen Forderungen als Reaktion auf das schreckliche Geschehen.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sagte Bild, es brauche die "volle Breitseite des Rechtsstaates". "Diese Taten müssen uns schon zu der Frage führen: Was ist zwischen 2014 und 2016 falsch gelaufen?" Kubicki mahnte, die "Integrationsfähigkeit unseres Landes im Auge" zu behalten. Deutschland könne nicht "unendlich viele Menschen aufnehmen, die wir dann auch nicht mehr betreuen und integrieren könnten".
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte als Konsequenz aus der Tat mehr Polizisten und Sicherheitspersonal etwa an Bahnhöfen. "Die Bundespolizei ist an den Bahnhöfen zu schwach aufgestellt. Es fehlt an 3000 Stellen", sagte Andreas Roßkopf, bei der GdP zuständig für den Bereich Bundespolizei und Zoll, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Freitag). "Und es fehlt auch an Sicherheitskräften bei der Bahn." Die Deutsche Bahn verwies darauf, dass neben knapp 5500 Beamten der Bundespolizei rund 4300 Sicherheitskräfte rund um die Uhr an Bahnhöfen und in Zügen im Einsatz seien.
Nach Angaben der Behörden kannten sich die Getöteten. Beide hätten eine Berufsschule in Neumünster besucht. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) wollte am Freitag dort sein, um mit Schulleitung, Lehrkräften und den Mitschülerinnen und Mitschülern zu sprechen. Freunde und Mitschüler bräuchten jetzt sofort besondere Unterstützung, um das Geschehene zu verarbeiten.
Faeser und Günther gedachten am Donnerstag in Brokstedt der Opfer und kamen auch mit Einsatzkräften zusammen, die am Mittwoch als erste an dem Zug waren, um zu helfen. Alle hätten einen "großartigen Job geleistet", sagte Günther. "Wir haben ihnen unseren Dank und unseren Respekt zum Ausdruck gebracht." Am Abend kamen am Bahnhof rund 100 Menschen mit Kerzen zusammen. Mit einer Andacht will die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Brokstedt an diesem Freitag an die Opfer erinnern. Laut Kirchenkreis Altholstein ist die Andacht für 17.00 Uhr in der Brokstedter Kirche angesetzt. Besucherinnen und Besucher können eine Kerze entzünden. Es soll zudem den Rettungskräften gedankt werden.
Originalmeldung: Nach Messerattacke in Regionalzug - was trieb den Täter an?
Nach dem tödlichen Angriff in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg bleiben Schock, Trauer und die Frage nach dem Warum. Polizei und Staatsanwaltschaft wollen ihre Ermittlungen zu der Attacke, bei der zwei Menschen starben und sieben verletzt wurden, am Donnerstag fortsetzen. Das Verbrechen hatte am Mittwoch einen Großeinsatz von Polizei und Rettungskräften ausgelöst und weit über Schleswig-Holstein hinaus für Entsetzen gesorgt.
Ein 33 Jahre alter staatenloser Palästinenser soll während der Fahrt auf mehrere Fahrgäste eingestochen haben. Ein vergleichbar schweres Gewaltverbrechen in einem Zug gab es nach Angaben von Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen (parteilos) in Schleswig-Holstein noch nicht.
Pressekonferenz zum Stand der Ermittlungen
Zwei Opfer starben, sieben Menschen wurden nach ersten Erkenntnissen verletzt. Auch der mutmaßliche Täter, den Zeugen überwältigten, wurde verletzt. Zu den Identitäten der Opfer gab es am Mittwoch noch keine Angaben, sie seien noch nicht zweifelsfrei geklärt, teilte die Polizei mit. Schleswig-Holsteins Innenministerium ordnete für Donnerstag Trauerbeflaggung an. Am Donnerstag (14.00 Uhr) wollen sich Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) und der Leiter der Polizeidirektion Itzehoe, Frank Matthiesen, bei einer Pressekonferenz in Kiel zum Stand der Ermittlungen äußern.
Viele Fragen blieben in den Stunden nach der Tat offen. "Die Hintergründe sind noch unklar", sagte eine Polizeisprecherin am Mittwoch. Es gab erste Hinweise, dass der mutmaßliche Angreifer geistig verwirrt sein könnte, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Sicherheitskreisen erfuhr. Nach vorläufigen Erkenntnissen war er in Norddeutschland bislang nicht als Extremist aufgefallen.
Nach Informationen von "Spiegel" und "Welt" soll der Mann aber mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten, laut NDR mehrfach vorbestraft sein. Wie dpa aus Sicherheitskreisen erfuhr, soll er bis letzte Woche inhaftiert gewesen sein. NDR und "Spiegel" zufolge hatte er zuletzt in Untersuchungshaft gesessen.
Mutige Zeugen stoppten den Täter
Die Ermittler befragten Dutzende Zeugen aus dem Zug, der mit rund 120 Fahrgästen besetzt war, in einem Gasthof in der Nähe des kleinen Bahnhofs der Gemeinde im Kreis Steinburg. Offenbar konnten mutige Fahrgäste Schlimmeres verhindern, sie überwältigten den Angreifer und hielten ihn fest.
Nach der Tat drückte auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Betroffenen ihr Mitgefühl aus. "All unsere Gedanken sind bei den Opfern dieser furchtbaren Tat und ihren Familien", schrieb die Politikerin im Kurznachrichtendienst Twitter.
Dies sei eine "erschütternde Nachricht". Sütterlin-Waack eilte am Nachmittag zum Tatort und ließ sich informieren. Sie hatte von dem Verbrechen während einer Landtagssitzung erfahren. Sie sei "in Gedanken bei den Familien und Angehörigen der Opfer".
Günther: "Das ist ein furchtbarer Tag."
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sprach am Mittwochabend in Kiel von einer schrecklichen und sinnlosen Tat. "Schleswig-Holstein trauert - das ist ein furchtbarer Tag", sagte Günther. Er denke an alle, die trauerten und um die Verletzten bangten. Er sei in Gedanken und Gebeten bei den Menschen, bei den Angehörigen. Der Regierungschef dankte den Einsatzkräften für deren Arbeit und auch denen, die sich um die Passagiere und Zeugen im Zug sowie um die Verletzten gekümmert hätten.
Die Deutsche Bahn sprach den Angehörigen der Opfer tiefes Mitgefühl aus. "Den Verletzten wünschen wir eine baldige und vollständige Genesung."
In der Nacht zum Donnerstag wurden die getöteten Opfer von Bestattern aus dem beim Bahnhof in Neumünster abgestellten Zug geholt, wie ein dpa-Fotograf sah. Auch die Spurensicherung war weiter aktiv.
mit dpa